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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Hamilton
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war in den nächsten Wochen, merkte ich, dass er die ganze Sache wieder in seinem Kopf abspulte. Nicht nur den Überfall selbst, sondern auch meine seltsame Reaktion darauf.
    Er tut mir schon ein wenig leid, wenn ich daran zurückdenke. Schließlich hatte er niemanden, mit dem er über mich sprechen konnte. Es gab da so eine Frau von der Behörde, die vorbeikam, um nach mir zu sehen, aber die erschien nur etwa einmal im Monat und nach dem ersten Jahr gar nicht mehr. Doch selbst wenn sie ihre Besuche fortgesetzt hätte, was hätte sie schon mit mir anfangen sollen? Allem Anschein nach ging es mir gut. Nicht gerade phantastisch, aber einigermaßen. Ich aß regelmäßig, wenn auch häufig im Flame. Ich schlief. Und, ja, ich ging auch endlich wieder zur Schule.
    Die Schule hieß The Higgins Institute und wurde vorwiegend von tauben Kindern besucht. Tauben Kindern mit Geld, meine ich. Außer ihnen gab es noch ein paar Schüler mit sogenannten »Kommunikationsstörungen«, das heißt, irgendeinem Defekt, der sie am Hören oder Sprechen oder beidem hinderte. In diese Kategorie steckten sie mich. Ich hatte eine »Störung«.
    Ich war neun Jahre alt, vergessen Sie das nicht. Ich war anderthalb Jahre lang nicht zur Schule gegangen. Eines kann ich Ihnen sagen, der Neue in der Schule zu sein ist schon schlimm genug, aber versuchen Sie das mal in einer Schule, in der kaum jemand mit Ihnen sprechen kann, selbst wenn er es wollte. Und Sie nicht antworten können.
    Das stellte sich als das erste Problem heraus, das man zu beheben versuchte. Ich sollte eine Form der Kommunikation lernen, die besser war, als für den Rest meines Lebens Notizblock und Stift mit mir herumzutragen. Weshalb ich anfing, amerikanische Gebärdensprache zu lernen.
    Das fiel mir nicht leicht. Allein schon, weil ich sie nicht verwenden
musste.
Zu Hause wandte ich sie nie an, ich übte nie, außer in der Schule. Dagegen gingen all die tauben Kinder total darin auf. Ihre ganze Kultur bestand daraus, es war ihr eigener Code, ihre Geheimsprache. Ich war also nicht nur einer, der »anders« war. Ich war der Eindringling, der kaum ihre Sprache konnte.
    Zu allem Übel gab es nach wie vor reichlich Psychologen und Sozialpädagogen, die an mir herumdokterten. Das hörte einfach nicht auf. Jeden Tag saß ich mindestens eine Dreiviertelstunde lang bei jemandem im Büro. Bei irgendeinem Erwachsenen in Jeans und Pulli. So, dann wollen wir mal ein bisschen ausspannen, Michael, was? Wir machen’s uns gemütlich und lernen uns ein bisschen kennen, ja? Wenn du mit mir reden möchtest … Und mit reden meine ich, dass du auch etwas aufschreiben oder mir ein Bild malen kannst, weißt du. Alles, was du willst, Mike.
    Was ich wollte, war, dass sie mich verdammt noch mal in Ruhe ließen. Denn sie begingen alle einen großen Fehler. Dieses Gerede davon, dass ich zu jung sei, um das Trauma zu »verarbeiten«, dass ich es deshalb im Hinterhof meines kleinen Verstands vergraben musste, so lange, bis jemand daherkam und mir half, es wieder auszubuddeln – ehrlich, ich rege mich heute noch auf, wenn ich daran denke. Diese Herablassung dabei. Diese unglaubliche, vollkommene Ahnungslosigkeit.
    Ich war acht Jahre alt gewesen, als es passierte. Nicht zwei Jahre. Nicht drei. Sondern acht, und wie jedes andere Kind in meinem Alter hatte ich genau gewusst, was mit mir geschah. In jeder einzelnen Sekunde, in jedem Moment. Ich hatte gewusst, was geschah, und als es vorbei war, hatte ich mich daran erinnern und es in meiner Vorstellung erneut erleben können. Jede einzelne Sekunde, jeden Moment. Am nächsten Tag konnte ich das immer noch. Eine Woche später konnte ich es. Ein Jahr später. Fünf Jahre später. Zehn Jahre später. Ich konnte jenen Tag im Juni ständig wiedererleben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er für mich
nie vergangen war.
    Ich hatte ihn nicht verdrängt. Ich brauchte nicht zu graben, um ihn mir zu Bewusstsein zu bringen. Er war immer da. Mein ständiger Begleiter. Meine rechte Hand. In jeder wachen Stunde – und gar nicht so wenigen schlafenden – machte ich und mache ich und werde ich immer wieder diesen Tag im Juni durchmachen.
    Niemand hat das je verstanden. Kein Mensch.
    Aus heutiger Sicht, wenn ich’s genauer betrachte, bin ich vielleicht zu streng mit ihnen. Sie wollten mir helfen, ich weiß, und ich habe ihnen nicht den kleinsten Fingerzeig gegeben. Das Problem war, dass sie mir wohl nicht hätten helfen
können.
Nicht mal ansatzweise. Und ich glaube,

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