Der Mann aus dem Safe
verbal in der Luft zerrissen. »Primitiver, pseudoironischer Schwachsinn«, sagte er, glaube ich, dazu. Daher hatte ich von Haus aus nicht gerade eine Neigung zum Comic-Genre. Es ergab sich einfach.
Je mehr ich damit arbeitete, desto besser gefiel es mir. Auf dem nächsten Bild richtete ich mich vom Graben auf, halb umgewandt, und sah Amelia zum ersten Mal vor mir.
Eine breitere Ansicht für das dritte Panel. Ich wusste intuitiv, dass man immer wieder die Perspektive wechseln muss. Auf diesem waren wir beide zu sehen, sie wieder mit einer Sprechblase. »Ich habe schon von dir gehört. Bevor du bei uns eingebrochen bist. Du bist der Typ, der nicht redet, stimmt’s?«
Nahansicht von mir, die Schmutzstreifen auf meinem Gesicht. Mach es erst mal ganz grob, verbeiß dich nicht darin, es perfekt zu zeichnen. Denn das ist deine Chance, ihr zu antworten. Die Chance, endlich etwas zu ihr zu sagen, wenn auch nur in einer Gedankenblase …
Sei nicht so schüchtern, du Idiot. Sag’s einfach.
»Mein Gott, in natura ist sie noch viel schöner.«
Ja, genau. Nächstes Panel, wieder sie. Spul es in deinem Kopf noch mal ab. Jedes Wort.
»Warum eigentlich nicht? Weil dir was Schlimmes zugestoßen ist, als du noch klein warst?«
Und was jetzt? Was soll ich darauf antworten? Ich zeichnete mich, wie ich den Blick abwandte und dachte: »Ja.«
Sie wieder. »Ich durchschaue dich. Dich und deine stumme Pose. Glaub mir, wenn du über schlimme Sachen in der Kindheit reden willst, könnten wir ein paar Geschichten austauschen.«
Eine Hinteransicht von mir, über meiner Schulter ist ihr Gesicht zu sehen, das ich später noch ausarbeiten muss. Noch eine Gedankenblase über meinem Kopf. »Wenn sie wüsste, wie viel wir gemeinsam haben …«
Dann ein Bild, wie sie davongeht und ich ihr nachsehe. Dann, wie ich wieder den Spaten in die Erde steche. Das letzte Panel auf dieser Seite, die letzte Gedankenblase. Ich grübelte eine Weile darüber nach. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und schrieb es hin.
»Wenn sie mich darum bitten würde, würde ich bis zum Mittelpunkt der Erde für sie graben.«
Gott, ist das albern. Tja, was soll’s, schreib das auch hin. Gib zu, wie albern das klingt. Eine zweite Gedankenblase, rechts von der ersten, ein Stück tiefer. »Gott, ist das albern. Aber ich glaube, es stimmt wirklich.«
Okay, dachte ich. Okay. Wenigstens redest du jetzt mit ihr. Das könnte tatsächlich was bewirken.
Ich arbeitete noch ein, zwei Stunden daran und ergänzte die ganzen Details. Feilte an den Gesichtern, der Mimik. Der Beschaffenheit des Erdreichs. Hier und da ein wenig Hintergrund, aber nie so viel, dass es ablenkte. Als ich fertig war, steckte ich das Blatt wieder in einen großen Umschlag und stellte meinen Wecker auf zwei Uhr morgens.
Ich versuchte zu schlafen. Als der Wecker ging, war ich ruck, zuck aus dem Bett. Ich zog mich an, schlüpfte aus dem Haus und stieg ins Auto. Die Fahrt machte ich sowieso schon jeden Tag, aber das genügte offenbar nicht. Ein Streifenwagen kam mir in Amelias Straße entgegen, als ich um die Kurve bog. Ich hielt die Luft an und blickte stur geradeaus. Er rauschte an mir vorbei. Ich fuhr weiter bis zum Ende der Straße, wendete und parkte wieder ein ganzes Stück vom Haus weg. Stieg aus und ging durch die Dunkelheit, tat so, als würde ich dort hingehören.
Ich schlich ums Haus, holte mein Werkzeug heraus und öffnete das Schloss. Heute Nacht kam mir das so leicht und selbstverständlich vor, wie einen Schlüssel zu benutzen.
In der Küche blieb ich wieder lange stehen und lauschte. Fühlte mein Herz schneller schlagen, dasselbe Gefühl, so vertraut jetzt. Du könntest süchtig danach werden, dachte ich. Nach diesem gewissen Moment.
Ich ging die Treppe hinauf, blieb vor ihrer Tür stehen, wartete noch eine Minute, spitzte die Ohren. Als ich diesmal den Türknauf drehte, war nicht abgeschlossen. Das verunsicherte mich, und ich überlegte kurz, ob sie auf der anderen Seite der Tür schon auf mich wartete. Bereit, das Licht anzumachen, bereit, loszuschreien.
Nein. Ich sah, dass sie schlief, als ich die Tür aufmachte. Ich ging hinein und legte den Umschlag auf die Kommode. Ein Geräusch draußen im Flur ließ mich erstarren. Ich wartete. Amelia drehte sich um und schlief weiter. Ich hörte ihrem Atmen zu.
Wieder überkam mich dieses merkwürdige Gefühl bei der Vorstellung, dass jemand ins Haus einbrechen und sie hier in ihrem Zimmer im Schlaf beobachten könnte. Ich meine,
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