Der Mann aus London
jetzt!«
»Hat er wenigstens einen Mantel?«
»Nein. Seinen Regenmantel hat er im Hotel gelassen.«
Es war kalt. Wenn der Wind auf Ost drehte, würde es gegen Morgen frieren.
»Woher bekommt er was zu essen?«
»Das weiß ich nicht, Mrs. Brown. Am besten, Sie stellen jetzt keine Fragen mehr. Morgen werden wir bestimmt mehr wissen.«
Als sie die Hotelhalle durchquerten, sahen sie Eva Mitchel und ihren Vater, die im Salon saßen und Dame spielten. Madame Brown wirkte so entkräftet, daß Molisson einen Moment glaubte, er müsse sie noch aufs Zimmer bringen.
»Sie versprechen mir, daß vor morgen früh nichts mehr unternommen wird?«
»Aber ja!«
Zehn Minuten später rief Molisson den Sonderkommissar an.
»Hallo! Sind Sie’s? … Haben Sie eine Spur?«
»Nein, nichts. Die Leute patrouillieren die ganze Nacht. Wir sind so gut wie sicher, daß er die Stadt nicht verlassen hat. Übrigens, ich habe da eine Meldung bekommen wegen einer Engländerin, die hier an Land gegangen ist, eine Madame Brown. Ist das womöglich …«
»Ja. Das ist seine Frau. Ich kümmere mich um sie.«
Maloin saß in seiner Kabine und schob die Zeitung beiseite. Es war eine Lokalzeitung, denn in den großen Pariser Zeitungen stand nichts über den Mord in Dieppe. Hier aber wurde die ganze Geschichte erzählt. Dem Reporter war es gelungen, Molisson zum Reden zu bringen: Die Zeitung brachte nicht nur etwas über die Vergangenheit Browns, sondern auch Einzelheiten über den Einbruch im Palladium sowie ein Foto des alten Mitchel und seiner Tochter, die gerade aus dem Hôtel de Newhaven herauskamen.
Schon zwei Tage lang hatte Maloin dem Schrank kaum einen Blick gegönnt, ohne daß ihm das so recht bewußt geworden war. Schon zwei Tage lang hatte er Kopfschmerzen vom vielen Grübeln. Und das war um so quälender, als ihm immer wieder die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen.
War es zum Beispiel nicht unvorsichtig gewesen, heute nachmittag so große Einkäufe zu machen? Es war ihm nicht entgangen, daß sein Schwager die Augen zusammengekniffen und bei seinem »Du hast wohl das Große Los gewonnen, wie?« irgendwelche Hintergedanken gehabt hatte.
Maloin hatte auch keine Lust, zu der Steilküste hinüberzublicken, die nur als schwarze Kontur gegen den dunklen Himmel erkennbar war. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, daß so viele Leute hinter diesem Koffer her sein würden. Und der, der ihn am allermeisten beeindruckte, war nicht etwa der Inspektor vom Yard, sondern der alte Mitchel mit seinen Feine-Leute-Manieren. Der hätte es fertiggebracht, Maloin für eine Auskunft, etwa die Adresse eines Hotels, ein Trinkgeld in die Hand zu drücken. Und Maloin hätte es angenommen!
War es denkbar, daß so ein Mann fast kein Geld mehr hatte? Diese Vorstellung gab Maloin ein gewisses Überlegenheitsgefühl; gleichzeitig war sie ihm aber auch peinlich. Und dann war da noch ein Satz am Schluß des Zeitungsartikels, den er inzwischen auswendig konnte:
Brown hat in Newhaven eine Frau und zwei Kinder, die allem Anschein nach von alledem keine Ahnung haben.
Maloin hatte diesen Brown ja gesehen, seinen Regenmantel, seinen abgetragenen Anzug, seine geflickten Schuhe. Er konnte sich ohne weiteres ein Häuschen auf der Steilküste von Newhaven vorstellen: wie sein eigenes auf der Steilküste von Dieppe, ganz ähnlich im Typ, höchstens ein klein wenig großzügiger. Und noch nicht mal das war sicher!
Auf der Anzeigentafel wurde Gleis Drei angefordert, und er gab es frei. Dann trank er eine Tasse heißen Kaffees. Auf dem Kai unten bemerkte er Inspektor Molisson; er redete auf die Engländerin ein, die Maloin am Nachmittag auf der Straße aufgefallen war.
Maloin hatte das Gefühl, er sei am Ersticken. Er wußte, daß er unbedingt etwas unternehmen mußte. Einen Moment war er hart in Versuchung, den Schrank zu öffnen und den Koffer ins Hafenbecken zu schleudern.
Aber was hätte das genützt? Es hätte nichts geändert. Wenn er wenigstens sicher gewesen wäre, das Köfferchen nach ein oder zwei Wochen, wenn der ganze Zirkus vorüber war, an der gleichen Stelle wiederzufinden! Aber es würde von der Ebbe weiter hinausgetrieben werden, im Schlamm versinken oder womöglich am Anker eines Bootes hängenbleiben.
Er tat so, als dächte er nicht an Brown. Er wollte nicht an ihn denken. Er konzentrierte sich absichtlich auf andere Dinge, aber in Wirklichkeit kreisten seine Gedanken ständig um die Hütte. Er war unzählige Male nachts zum Fischen
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