Der Mann aus London
ausgelaufen und wußte ziemlich genau, wie weit das Wasser jeweils an die Hütte herankam. Er hörte das Tosen der Brandung auf dem Kiesstrand, und er roch den Teer, mit dem er sein Boot gestrichen hatte. Er war sicher, daß Brown bereits Teerflecken am Anzug hatte.
Die Gendarmerie hatte die Höhlen der Steilküste systematisch abgesucht. Und sie würde weiter dort suchen. War es nicht denkbar, daß ein zufällig vorüberkommender Gendarm der leichten Tür seiner Hütte einen kräftigen Tritt versetzte?
»Mal sehen, ob der Bursche da drin steckt«, würde er sich sagen.
»Sie haben kein Recht, die Tür gewaltsam zu öffnen!«
Maloin hatte seine halblauten Selbstgespräche wieder aufgenommen. Und wenn nun ein Laut aus dem Innern kam? Dann würden die Gendarmen kurzen Prozeß machen. Maloin überlegte, ob das gut oder schlecht für ihn wäre. Würde Brown ihn, Maloin, erwähnen?
Als das Newhaven-Schiff in den Hafen einlief, führte Maloin rein mechanisch die gewohnten Handgriffe aus. Er nahm nichts wahr, nur Lichter und Schatten, die sich bewegten. Außer dem Läuten seines Stellwerks registrierte er nur undeutliche Geräusche.
Er wagte nicht, zu seinem Haus hinüberzuschauen, wo seit langem das Licht ausgegangen war. In der Hütte war genug Werkzeug, mit dem man die Tür aufbrechen konnte. Wenn Brown wußte, daß Maloin den Koffer hatte, dann würde er ihn in seinem Haus suchen kommen.
Als Maloin wieder hinunterblickte, war der Sonderkommissar vorn am Eingang zum Hafenbahnhof dabei, sich jeden einzelnen Reisenden genau anzusehen. Maloin wäre um ein Haar zu ihm hingegangen. Vielleicht würde er mit einer milden Strafe davonkommen? Er war nicht vorbestraft. Alle würden zu seinen Gunsten aussagen. Aber sie würden ihm den Koffer wegnehmen! Er würde seine Stelle verlieren!
Was blieb ihm dann noch übrig? Herumbasteln wie Baptiste? Auf der Straße Fisch verkaufen oder sonst etwas in der Art. Henriette würde wieder Dienstmädchen spielen und ihm gram sein deswegen. Seine Frau auf jeden Fall würde ihm Tag für Tag neue Vorhaltungen machen:
»Da siehst du, wohin es führt, wenn einer besonders schlau sein will!«
Und sein Schwager wäre natürlich ganz obenauf! Ernest würde ihm nicht mehr gehorchen!
Wenn er jetzt von seinem Posten weg und für ein paar Minuten ins Moulin-Rouge gekonnt hätte, dann hätte er sich bestimmt betrunken. Eventuell hätte er sogar Camélia mitgenommen, um sich zu beweisen, daß er noch lebendig und ein Mann war.
Auf dem Bahnhof waren nur zwei Gendarmen. Als der Schnellzug nach Paris jedoch abgefahren war, fiel Maloin ein flackernder Lichtschein auf, der nur von einer Taschenlampe kommen konnte. Die Gendarmen waren also wieder auf ihrer Runde. Die Streife kam auch unten am Stellwerk vorbei, und der Lichtstrahl huschte über die eiserne Leiter. Aber erst zwei Stunden später sah man das Licht auf der anderen Seite des Hafenbeckens auf und ab tanzen, oben auf der Steilküste, etwa hundert Meter von Maloins Haus entfernt. Er kannte dort jeden Stein.
»Ein ausgehungerter Mann!« brummte er vor sich hin. »Das muß ein Ende haben!«
Noch mehr solcher Nächte wie die drei letzten konnte er nicht verkraften. Er wußte nicht, was er tun würde, aber er würde etwas tun. Ohne seinen dämlichen Beruf wäre er sofort zu der Hütte hinübergegangen. Aber er konnte das Stellwerk ja unmöglich ohne Kontrolle lassen.
Er war erleichtert, nun eine Entscheidung getroffen zu haben, schaute auf die Uhr und verbrachte die letzten drei Stunden in trotzigem Warten. Der Fischmarkt begann, als es noch dunkel war. Dann dämmerte ein klarer und kalter Morgen. Sein Kollege kam. In seinen Kleidern hing die kalte Morgenluft, und er wischte sich mit dem Handrücken Tropfen von der Nase.
»Alles klar?«
»Alles klar!«
Ohne sich vorher etwas Bestimmtes überlegt zu haben, ging Maloin in die nächste Geschäftsstraße. Er sah eine Metzgerei, die gerade aufgemacht hatte, und kaufte Wurst, zwei Büchsen Sardinen und ein Stück Pastete, wobei er sich grimmig in dem Spiegel betrachtete, der die Wand hinter dem Ladentisch einnahm.
Vor einer der Kneipen am Markt blieb er stehen, ging hinein und ließ sich Schnaps in seine Henkelkanne füllen.
Er fühlte sich schlapp. Er tat das alles widerwillig, wie einer, der eine lästige Pflicht erfüllt, der an die Beerdigung eines Nachbarn geht, mit dem er sich verzankt hatte. Er glaubte noch nicht einmal, daß es richtig war, was er tat. Seine Welt war aus dem Lot geraten.
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