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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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einen Blick zuwirft. Sie standen keine fünf Meter voneinander entfernt. Sie waren durch einen bronzenen Poller voneinander getrennt, auf dem sich feiner Rauhreif abgesetzt hatte. Die Sonne hatte den Morgennebel durchbrochen; die Luft war klar, und die Farben hatten einen matten und freundlichen Ton. Die Hälfte des Universums bestand aus Meer, und dieses Meer wurde von keinem Fältchen gekräuselt, es hatte noch nicht einmal einen weißen Saum am Rande. Und die andere Hälfte erwachte langsam: Um den Markt mit seinen glänzenden Fischen wurde es lebendig, und auch aus den Straßen drangen Geräusche herüber – Klingeln, Hämmern und das Aufklappen von Fensterläden.
    Die Pfeife zwischen den Zähnen und die Eisenbahnermütze in die Stirn gerückt stand Maloin breitbeinig da und tat so, als ob er gewohnheitsmäßig aufs Wasser schaue, wie viele Leute das tun. Aber er verlor die beige Silhouette nicht aus dem Augenwinkel.
    »Er sieht verzweifelt aus«, dachte er.
    Oder war er vielleicht überhaupt nie fröhlich? Er hatte einen komischen, sehr schmalen Kopf mit langer spitzer Nase und blassen Lippen; dazu einen stark vorspringenden Adamsapfel.
    Schwer zu sagen, was für einen Beruf er ausübte. Ein Arbeiter war er jedenfalls nicht. Er hatte große, gepflegte Hände mit rötlichem Flaum auf dem Handrücken und gerade geschnittenen Fingernägeln. Gekleidet war er wie die meisten englischen Touristen, die in Dieppe an Land gingen: beige-brauner Tweedanzug, einfach, aber schick geschnitten, dazu Filzhut und Regenmantel aus gutem Material. Ein Angestellter war er auch nicht; irgend etwas an ihm deutete darauf hin, daß er keine sitzende, vielleicht noch nicht einmal eine geregelte Lebensweise führte. Maloin brachte ihn in Verbindung mit Bahnhöfen, mit Hotels, mit Häfen …
    Und plötzlich hatte er eine Idee, die, ob sie nun etwas taugte oder nicht, mit seinem Gesamteindruck übereinstimmte: Der Mann sah aus wie einer, der in einem Varieté oder in einem Zirkus auftritt. Ein Zauberkünstler vielleicht, oder ein Bauchredner. Oder womöglich ein Akrobat?
    Baptiste, der sein Boot festgemacht hatte, setzte einen Korb mit Seeaal auf dem Kai ab, und der Mann verfolgte aus tiefliegenden traurigen Augen jede seiner Bewegungen, während er seine Zigarette zwischen den nikotinverfärbten Fingern hielt.
    »Nicht gerade berühmt!« Baptiste wies auf die Aale.
    Er sprach mit dem Mann aus London, wie ein Fischer eben mit jemand spricht, der am Kai herumsteht.
    Würde der Mann nun seinerseits ein Gespräch mit Baptiste suchen? Hatte er nicht deswegen überhaupt so lange gewartet? Maloin war sicher. Er wußte auch, daß er hier einer zuviel war, aber er wollte jetzt nicht mehr weg.
    Während der Fischer sich auf den Kai hievte, vollführte der hagere Kopf des Engländers eine leichte Drehung nach links. Zwei Augenpaare trafen sich zum ersten Mal – teils ängstlich, teils erstaunt, jedoch unfähig, sich voneinander zu lösen.
    Maloin hatte plötzlich Angst, Angst vor allem und vor nichts. Und der Mann wiederum hatte Angst vor diesem Bahnarbeiter, der wie angewurzelt da stehen blieb.
    »Ich darf auf keinen Fall zu der Stellwerkskabine raufschauen«, schoß es Maloin durch den Kopf. »Sonst weiß er sofort Bescheid.«
    Aber er schaute natürlich doch hin, und er war sicher, daß der andere seinem Blick folgte.
    »Er wird meine Eisenbahnermütze erkennen und dann …«
    Es mußte so kommen. Die Augen des Mannes hefteten sich auf seine Mütze.
    »Möchten Sie immer noch eine Spazierfahrt machen?« fragte Baptiste.
    Maloin hörte die Antwort nicht mehr. Er war regelrecht davongelaufen und rannte dabei fast eine mit Krevetten beladene Frau um. Er schlängelte sich zwischen den verschiedenen Gruppen und Grüppchen hindurch, bis er auf der anderen Seite der Markthalle war. Dann erst drehte er sich um. Der beige Regenmantel war nicht mehr da.
    Er war sicher, daß der andere genauso davongelaufen war wie er – abrupt, irrational. Und daß auch der Fremde sich am anderen Ende des Marktes nach ihm umsah.
     
    Für gewöhnlich legte er sich sofort nach dem Frühstück schlafen und stand gegen zwei Uhr auf. Den Rest des Nachmittags verbrachte er dann mit Fischen oder Herumbasteln. Auch jetzt wollte er schlafen wie gewöhnlich. Aber er war noch nicht einmal eine Stunde im Bett, da stand er schon auf und suchte seine Kleider zusammen.
    »Brauchst du was?« rief seine Frau, die ihn von unten gehört hatte.
    Er brauchte nichts; er fand bloß keinen

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