Der Mann aus London
Schlaf. Während er mit geschlossenen Augen im Bett gelegen hatte, da hatte er sich intensiv mit den Gezeitenströmungen beschäftigt und verschiedene Berechnungen angestellt.
Als der Mann ins Wasser gefallen war, da hatte die Ebbe noch etwa zwei Stunden angehalten. Er war also auf Grund gesaugt oder zwischen zwei Strömungen hin und her gezerrt worden, und schließlich war er ins offene Meer hinausgetrieben.
Dieser Mann war ja nicht der erste, der in Dieppe ertrank. Und wenn man einen Hafen genau kennt, kann man mit ziemlicher Sicherheit die Stelle vorausberechnen, an der die Leiche angeschwemmt wird. Der Tote von heute nacht konnte möglicherweise an einem der Pfähle der Mole hängengeblieben sein, und in diesem Fall würde es lange dauern, bis er entdeckt würde. Oder aber er war der Fahrrinne gefolgt und dann würde er mit der nächsten Flut etwas unterhalb des Strandes ankommen, wie die Amerikanerin im letzten Jahr.
Maloin schnürte seine Schuhe zu und stieg die Kiefernholz-Treppe hinunter, die unter seinem Gewicht erzitterte; überhaupt schien das ganze Haus, das in Leichtbauweise erstellt war, bei jedem Schritt zu zittern.
»Gehst du schon weg?«
Seine Frau, die beim Wäschewaschen war, schaute erstaunt hoch.
»Ja, ich gehe.«
Mehr brauchte sie nicht zu wissen, das ging sie nichts an. Er sah den Topf auf dem Herd und hob den Deckel, um nachzuschauen, was es zum Mittagessen gab. Als er dann seinen Schal umlegte, fiel ihm der gestrickte Wollschal seines Kollegen wieder ein. Unter der Haustür blieb er stehen und stopfte sich eine Pfeife. Der Strand war von hier aus zu überblicken, aber er war zu weit weg, als daß zwischen den Loren, die mit Kies beladen wurden, etwas zu erkennen gewesen wäre.
Als er dann über den Fischmarkt ging, war die Versteigerung zu Ende, und man war bereits dabei, die Fliesen sauberzuspritzen. Die Sonne fiel in die Glaskabine auf der anderen Seite des Hafenbeckens, und Maloin konnte ganz klar die Umrisse seines Kollegen erkennen.
Maloin betrat das nächste Bistro.
»Für mich ’nen Calvados«, sagte er.
Er stand mit aufgestützten Ellbogen an der Theke und dachte an den Clown. So nannte er ihn jetzt. Ob er ihm begegnen würde? Er hatte zwar keine Lust, ihn wiederzusehen, aber er hielt dennoch ständig nach ihm Ausschau.
Die Strandpromenade war verlassen. Die großen Hotels hatten den Winter über zugemacht, und die Fensterläden waren geschlossen. Auch das Spielkasino und die exklusiven Geschäfte in der unmittelbaren Umgebung waren nicht geöffnet. In diesen Teil von Dieppe kam Maloin sonst nie: im Sommer, weil er hier nichts verloren hatte, und im Winter, weil absolut nichts los war. Auch jetzt gab es nur ein paar Mütter, die ihre Kinder auf der Promenade spazierenführten. Eine mit Kies beladene Lore kam vorüber, und vorn am Strand sah man eine Gruppe von Männern, die ihre Schaufeln schwangen und Kies aufluden.
Pfeiferauchend, die Hände in den Taschen, schlenderte Maloin dahin. Er sah aus wie ein biederer Arbeiter, der sich einen Spaziergang an der frischen Luft gönnt. Scheinbar ruhig ließ er seinen Blick über den mit Tang bedeckten Streifen vor der Küste gleiten. Da war keine Leiche. Man konnte allenfalls ein großes Büschel mit Algen für einen angeschwemmten Körper halten. Maloin ging dicht heran und vergewisserte sich sogar mit einem Fußtritt, daß nichts darinsteckte. Ohne aufzublicken ging er dann zur Strandpromenade zurück, und er gewahrte den Clown erst, als er die Stufen hinaufstieg und ihm praktisch gegenüberstand.
Ihre Blicke zogen sich sofort an, wie am Morgen. Aber die Augen des Engländers drückten zweifellos mehr Schrecken aus. Maloin fiel auf, daß seine Nase vor Kälte blau angelaufen war, und daß die Zigarette zwischen den Lippen zitterte.
Wenn Maloin nun weiter die Treppe hinaufgestiegen wäre, hätten sie dicht aneinander vorbei gemußt. Verlegen, wie einer, der eben gelogen hat, wandte Maloin sich um und tat so, als sei er in die Betrachtung des Meeres versunken. Er lauschte. Die Schritte hinter ihm entfernten sich.
Als Maloin sich umblickte, war der Mann aus London schon weit weg; er lief mit so großen Schritten davon, daß man bei seinem Anblick unwillkürlich an eine Heuschrecke dachte.
Was für ein Mensch mochte er sein? Wie ein mieser Schuft sah er nicht aus. Im Gegenteil! Er wirkte eher wie ein armer Teufel, dem es schlecht geht und der sich einsam durchs Leben schleppt.
Und dennoch hatte er aus London einen Koffer
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