Der Mann aus London
die Frage, warum er nicht sofort Hilfe herbeigerufen hatte.
Nun, die Antwort war ziemlich simpel: Er hatte einfach nicht daran gedacht. Wenn man sich in der Phantasie ausmalt, man sei Zeuge eines Verbrechens, dann ist man überzeugt, daß man dies oder jenes tun würde. Aber wenn man wirklich dabei ist, dann läuft alles ganz anders. Und bei Maloin war es so, daß er alledem einfach neugierig zuschaute wie einer anderen Straßenszene auch. Erst als der Große sich wieder aufrichtete, brummte er:
»Der andere ist sicher tot!«
Seine Pfeife war ausgegangen, und er steckte sie wieder an, wobei er mißmutig auf den Kai hinunterschaute. Er hielt es für seine Pflicht, da hinunterzugehen, aber er hatte Angst. Würde ein Mann, der gerade einen anderen umgebracht hat, etwa davor zurückschrecken, einen zweiten umzulegen? Immerhin machte er die Tür seiner Glaskabine auf. Der Mörder unten hörte das Geräusch, schaute in die Höhe und lief mit Riesenschritten nach der Stadt davon.
Maloin stieg schwerfällig hinunter. Wie er es nicht anders erwartet hatte, war die Wasseroberfläche des Hafenbeckens völlig glatt, ohne die geringste Spur des Ertrunkenen und des Koffers. Fünfzig Meter weiter vorn ragte der Vordersteven des Newhaven-Schiffs aus dem Wasser. Im hinteren Teil wurden immer noch Kisten ausgeladen.
Sollte er ins Café Suisse, wo vorhin ein Polizist hineingegangen war? Er konnte sich nicht schlüssig werden, aber dann fiel ihm ein, daß er keinen Schnaps mehr hatte, und er ging daraufhin ins Moulin-Rouge. Er setzte sich in der Nähe der Tür an die Bar.
»Wie geht’s?« fragte Camélia.
»Danke … Einen Calvados!«
Die Jazzmusik kam aus dem hinteren Teil des Lokals, der in rosa Licht getaucht war, und es gab ein paar Leute, die tanzten. Camélia wartete, ob Maloin ihr vielleicht ein Zeichen geben würde, und eine Sekunde lang hatte er auch Lust dazu. Aber dann trank er einen zweiten Calvados und dachte nicht mehr daran.
Er war in mieser Stimmung und erinnerte sich, daß er bereits übelgelaunt von zu Hause fortgegangen war. Aber diesmal handelte es sich nicht um etwas Belangloses. Er hatte nicht sofort Hilfe herbeigerufen, und man würde ihm sein Schweigen zum Vorwurf machen. Aber war es vielleicht seine Schuld? Wenn er doch einfach nicht daran gedacht hatte!
»Gehst du schon?« fragte Camélia.
»Ja. Ich gehe.«
Er schaute nochmals auf das Wasser des Hafenbeckens und überlegte hin und her, während er zu seinem Glaskasten hochstieg. Auf jeden Fall brachte es nichts, nach dem Mann zu suchen, denn der war ohnehin tot, mausetot. Und der andere, der war schon über alle Berge.
Maloin sah auf seine Anzeigetafel. Auf Gleis drei wurden weitere Güterwagen gemeldet, und er gab den Weg frei.
Vor dem Moulin-Rouge hatte inzwischen ein Taxi gehalten: zwei Männer, die Unterhaltung suchten.
»Und überhaupt … Was geht’s mich an!« sagte Maloin laut.
Er legte Kohle im Ofen nach und trank den letzten Schluck Kaffee. Jetzt begann der widerlichste und kälteste Teil der Nacht. Es herrschte Ostwind, der Himmel war klar, und bis in einer Stunde würde es zu frieren beginnen. Bis zum Beginn des Fischmarkts, der in der Morgendämmerung anfing und am späten Vormittag endete, gab es nichts mehr zu tun und auch nichts zu sehen.
»Er hat ihn umgebracht, um den Koffer für sich allein zu haben!« dachte Maloin. »Geschieht ihm recht!«
Aber was konnte in dem Koffer drin sein? Für nichts und wieder nichts bringt man keinen um die Ecke.
Es war jetzt Ebbe, und in einer Stunde würde die Wassertiefe am Rand des Beckens nicht mehr als drei Meter betragen. Und in Anbetracht der Windrichtung womöglich sogar weniger. Maloin runzelte die Stirn, zog die Nasenflügel kraus, rieb sich die Schläfen und stieß einen Seufzer aus: alles Gewohnheiten, die man annimmt, wenn man stundenlang sich selbst überlassen ist. Man schneidet Grimassen, man gestikuliert, man brummt vor sich hin und man redet sich von Zeit zu Zeit gut zu.
»Warum eigentlich nicht?«
Natürlich, es war kalt. Aber … Wenn es sich lohnte!
Er ging in seinem Glaskäfig auf und ab und diskutierte weiter mit sich selbst. Dann stieg er in einem plötzlichen Entschluß die eiserne Leiter hinunter und wandte sich zum Kai.
»Und wenn schon«, brummte er nochmals vor sich hin.
Er zog Schuhe und Jackett aus und schaute zu dem englischen Schiff hinüber, auf dem es still geworden war. Dann tauchte er ins Wasser. Bis zu seinem Militärdienst hatte er an Bord eines
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