Der Mann aus London
groß und hager. Der Mörder. Er war in dieser Nacht nicht mehr zum Schlafen gekommen und offenbar die ganze Zeit in der Stadt umhergeirrt.
Was mochte er dem anderen erzählen, während er prüfend das grüne Boot betrachtete? Würde er es fertigbringen, das Boot zu mieten und mit einem Bootshaken den Grund abzusuchen, eventuell mit Baptiste zusammen?
Maloin lächelte und wußte selbst nicht, warum. Das alles machte keinen Eindruck auf ihn. Aber dann fuhr Baptiste allein los und warf seine Angelruten im Hafenbecken aus. Der andere schaute vom Kai aus zu und hauchte immer wieder auf seine vor Kälte klammen Finger.
So verging eine Stunde. Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Das Meer lag blaßgrün da und war mit glitzernden Fünkchen übersät, die aussahen wie Fischschuppen. Oben in Maloins Haus war das Fenster im ersten Stock aufgegangen; seine Frau machte bestimmt schon das Frühstück für den Kleinen, der um halb acht zur Schule mußte.
Jetzt kam ein Mann über die Brücke, und Maloin wußte, daß es sein Kollege war, der ihn ablösen kam. Alles in allem liefen die Dinge also ihren gewohnten Gang; es war ein Morgen wie jeder andere Morgen.
Der Mann im Regenmantel ging manchmal bis zur vordersten Stelle des Kais und kehrte dann zu seinem alten Platz zurück, wobei er wie gebannt auf den einen Teil des Beckens und auf Baptistes Boot starrte.
An Bord des englischen Schiffes war man dabei, mit Schläuchen das Deck abzuspritzen, und die Matrosen liefen barfuß über die nassen Planken.
Maloin hatte fünfhundertvierzigtausend Francs in seinem Schrank, einem weißen Holzschrank, der noch nicht einmal fünfzig Francs wert war und einen Neuanstrich nötig hatte. Wer hätte so etwas geahnt?
An der einen Wand hing ein Spiegel mit einem Sprung. Er blickte sich neugierig an darin. Das war der gleiche Maloin wie sonst auch: der helle Teint, das von vielen Seemannsfältchen durchzogene Gesicht, die grau-blauen Augen mit den buschigen Augenbrauen und der Schnurrbart, der langsam meliert wurde.
»Du gefällst dir wohl, was?« frotzelte sein Kollege, während er seine Kanne auf den Ofen stellte.
»Wer weiß, wer weiß …« sagte Maloin mit einem Zwinkern.
Er schaute auf den Schrank, dann zu dem grünen Boot und weiter zu dem Mann aus London, der am Ufer stand und ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Da mußte man doch einfach lächeln. Er tat es nicht absichtlich.
»Was ist gemeldet?«
»Zehn Waggons mit Treibhausgemüse …«
Seine Augen lachten, wurden ernst und lachten dann wieder. Das war alles sehr kompliziert. Und außerdem brachte es nichts, alles auf einmal zu bedenken. Das würde sich später schon geben.
Als er die Leiter hinunterstieg, kam es ihm in den Sinn, daß seine Frau zetern würde wegen der nassen Socken, die er in den Schuhen anbehalten hatte. Und vorn an der Straßenecke, nicht weit vom Café Suisse, sah er von weitem seine Tochter, die man Milch holen geschickt hatte.
2
Die ganze Sache hätte einfach so weitergehen können, daß Maloin seelenruhig nach Hause gegangen wäre und den Mann aus London nie wieder gesehen hätte. Da er ihn nur in der Nacht, beziehungsweise bei Tageslicht aus großer Entfernung gesehen hatte, konnte er behaupten, den anderen nicht wirklich zu Gesicht bekommen zu haben und ihn folglich nicht zu kennen.
Während Maloin nun aber der Biegung des Hafenbeckens folgend die eiserne Brücke überquerte und über den Markt auf die Steilküste zuschritt, hörte Baptiste in seinem grünen Boot auf zu fischen und hielt geradewegs auf den Fischmarkt zu. Der Mann aus London näherte sich mit gespielter Lässigkeit der Stelle, wo das Boot gleich anlegen würde.
Auch jetzt hätte Maloin noch vorbeigekonnt, aber er war gerade stehengeblieben, um sich einen riesigen Plattfisch anzusehen. Als er dann den Kopf hob, hatte er den sonnenbeschienenen grünen Fleck des Bootes direkt im Blickfeld; im Vordergrund war der beigefarbene Regenmantel und dahinter die blaue Gestalt von Baptiste, der sein Boot vorwärts bewegte.
»Tag, Maloin«, sagte jemand, der mit einem Korb voller Krabben vorbeikam.
»Tag, Joseph!«
Dabei hatte er sich doch fest vorgenommen, ganz schnell an der Stelle vorüberzugehen und auf dem Trottoir zu bleiben. Aber jetzt war es zu spät, und Schuld daran war die »Grâce-de-Dieu«, das grüne Boot, dem sie zu zweit entgegenschauten. Und wenn man sich zu zweit für denselben Vorgang interessiert, dann kommt es kaum vor, daß man sich nicht auch gegenseitig
Weitere Kostenlose Bücher