Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
den Büschen am anderen Ende der Wiese auftauchen. Annie hatte sie natürlich nicht gefunden. Sie trugen breitkrempige Strohhüte und Sommerkleider, dazu schwarze Kniestrümpfe und schwarze Halbschuhe mit niedrigen Absätzen. Da ihr Debüt in dieser Saison bevorstand, durfte Charlotte gelegentlich im Abendkleid und mit aufgestecktem Haar zum Dinner erscheinen, aber meist behandelte Lydia sie wie ein Kind, das sie ja auch noch war. Die beiden Cousinen waren in ein Gespräch vertieft, und Lydia hätte zu gerne gewußt, worüber sie redeten. Was beschäftigte mich, als ich achtzehn war, fragte sie sich unwillkürlich. Und sofort tauchte der junge Mann mit dem flaumigen Haar und den klugen Händen vor ihr auf. Bestürzt murmelte sie vor sich hin: »Oh, lieber Gott, laß mich mein Geheimnis bewahren.«
    »Glaubst du, wir werden uns anders fühlen nach unserem Debüt?« fragte Belinda.
    Charlotte hatte schon darüber nachgedacht. »Ich jedenfalls nicht.«
    »Aber wir sind dann doch erwachsen.«
    »Ich wüßte nicht, wie Parties, Bälle und Picknicks jemanden zu einem erwachsenen Menschen machen könnten.«
    »Wir werden Korsetts tragen müssen.«
    Charlotte kicherte. »Hast du schon mal eins angehabt?«
    »Nein, und du?«
    »Ich habe meins vorige Woche anprobiert.«
    »Und wie ist es?«
    »Scheußlich. Man kann nicht mehr gerade gehen.«
    »Wie hast du ausgesehen?«
    Charlotte deutete mit den Händen einen enormen Busen an. Die beiden Mädchen krümmten sich vor Lachen. Dann erblickte Charlotte ihre Mutter und machte ein reuiges Gesicht, weil sie Schelte erwartete, aber Mama schien in Gedanken versunken und lächelte nur vage, bevor sie sich abwandte.
    »Es wird aber Spaß machen«, sagte Belinda.
    »Die Saison? Ach ja?« erwiderte Charlotte zweifelnd.
    »Aber wozu das alles?«
    »Um die richtigen jungen Leute kennenzulernen, natürlich.«
    »Um einen Ehemann zu suchen, meinst du wohl.«
    Sie kamen an die große Eiche in der Mitte des Rasens, und Belinda setzte sich leicht schmollend auf die kleine Bank. »Du findest das alles furchtbar dumm, nicht wahr?« sagte sie.
    Charlotte setzte sich neben sie und blickte über die Grasfläche, die sich wie ein Teppich vor der Südseite von Waiden Hall ausbreitete. Die hohen gotischen Fenster glitzerten in der Nachmittagssonne. Von hier aus wirkte das Haus zweckmäßig und durchdacht, obgleich es hinter der Fassade eher einem Irrgarten glich. »Ich finde es nur dumm, daß man uns so lange darauf warten läßt«, sagte sie. »Es ist mir gar nicht so eilig, auf Bälle zu gehen, meine Visitenkarte am Nachmittag bei fremden Leuten zu hinterlassen und junge Männer kennenzulernen – es würde mir nichts ausmachen, es nie zu tun –, aber es ärgert mich, daß man mich immer noch wie ein Kind behandelt. Ich hasse es, mit Marya zu Abend zu essen, die von nichts etwas weiß oder jedenfalls immer so tut. Im Speisezimmer hat man wenigstens Unterhaltung. Papa hat immer etwas Interessantes zu erzählen. Und wenn ich mich mit Marya langweile, schlägt sie mir vor, Karten zu spielen. Aber ich habe das Spielen satt, denn ich habe bisher nichts anderes getan.« Sie seufzte. Es ärgerte sie noch mehr, wenn sie darüber sprach. Sie blickte auf Belindas ruhiges, sommersprossiges Gesicht mit den roten Locken. Charlotte hatte ein ovales Gesicht mit einer geraden Nase und einem starken Kinn, und ihr Haar war dicht und dunkel. Die glückliche, stets zufriedene Belinda, dachte sie. Alles fand sie gut und schön, und nichts konnte sie wirklich intensiv empfinden.
    Charlotte berührte Belindas Arm. »Es tut mir leid. Ich hatte nicht die Absicht, mich so aufzuregen.«
    »Ist schon gut.« Belinda lächelte verständnisvoll. »Du regst dich immer über Dinge auf, an denen du nichts ändern kannst. Erinnerst du dich, wie du damals unbedingt nach Eton gehen wolltest?«
    »Nein!«
    »Du weißt es nicht mehr? Du hast einen furchtbaren Wirbel gemacht und gefragt, warum du nicht ebenso wie dein Papa in Eton zur Schule gehen könntest.«
    Charlotte konnte sich nicht daran erinnern, mußte aber zugeben, daß diese Haltung zur ihr gepaßt hätte. »Glaubst du wirklich, daß man an all diesen Dingen nichts ändern kann?« fragte sie. »In die Gesellschaft eingeführt zu werden, eine Saison in London zu verbringen, sich zu verloben und dann zu heiraten …«
    »Du kannst ja immer noch einen Skandal heraufbeschwören, damit sie dich zwingen, nach Rhodesien auszuwandern.«
    »Ich weiß nur nicht, wie man einen Skandal

Weitere Kostenlose Bücher