Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Jetzt war Pritchard Waidens Haushofmeister, reiste mit ihm von einer Residenz in die andere und betrachtete sich, soweit es einem Diener zustand, als einen Freund.
»Der Erste Lord der Admiralität ist hier, Sir«, sagte Pritchard.
»Ich bin nicht zu Hause«, erwiderte Waiden.
Pritchard blickte betreten drein. Er war es nicht gewohnt, Minister des Kabinetts zurückzuweisen. Der Butler meines Vaters hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken, dachte Waiden, aber der alte Thomson genießt seinen wohlverdienten Ruhestand und züchtet Rosen im Garten seines kleinen Hauses im Dorf. Merkwürdigerweise hat Pritchard es nie fertiggebracht, sich diese unantastbare Würde anzueignen.
Pritchard verfiel wieder stärker in seinen Cockneyakzent, ein Zeichen, daß er entweder sehr entspannt oder sehr erregt war. »Mr. Churchill sagt, falls Ihre Lordschaft nicht zu Hause sei, solle ich Ihnen diesen Brief übergeben.«
Er hielt ihm ein Tablett mit einem Umschlag hin.
Waiden liebte es nicht, überrumpelt zu werden. Er sagte barsch: »Geben Sie ihm den Brief zurück …« Dann hielt er inne, blickte noch einmal auf die Schrift auf dem Umschlag. Die großen, klaren Buchstaben kamen ihm irgendwie bekannt vor.
»Ach, du meine Güte«, sagte Waiden.
Er nahm den Umschlag, öffnete ihn, zog ein einmal gefaltetes Blatt dickes weißes Papier heraus. Der Briefkopf trug das rotgedruckte königliche Wappen.
Waiden spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er las:
Buckingham Palast, 2. Mai 1914
Mein lieber Waiden, empfangen Sie bitte den jungen Winston.
George R. I.
»Es ist vom König«, sagte Waiden zu Lydia.
Er war so verlegen, daß er errötete. Es gehört schon ein entsetzlicher Formmangel dazu, den König in so etwas hineinzuziehen. Waiden fühlte sich wie ein Schuljunge, den man wegen seiner Streitereien gerügt hat. Einen Augenblick war er versucht, dem König zu trotzen. Aber er mußte die Folgen bedenken: Lydia würde nicht mehr von der Königin empfangen werden, man würde die Waidens nicht mehr zu gesellschaftlichen Anlässen einladen, bei denen ein Mitglied der königlichen Familie anwesend wäre, und – das schlimmste – Waidens Tochter Charlotte könnte bei Hof nicht als Debütantin vorgestellt werden. Es wäre das Ende des gesellschaftlichen Lebens der Familie. Dann könnte man ebensogut gleich ins Ausland ziehen. Nein, es kam nicht in Frage, dem König den Gehorsam zu verweigern.
Waiden seufzte. Churchill hatte ihn überlistet. Aber es war auch eine Erleichterung, denn jetzt konnte er sich über seinen Rang hinwegsetzen, und niemand konnte ihn dafür tadeln. ›Ein Brief vom König, alter Knabe‹, würde er erklärend sagen, ›da blieb mir nichts andres übrig.‹ »Bitten Sie Mr. Churchill herein«, sagte er zu Pritchard.
Er gab Lydia den Brief. Die Liberalen verstehen wirklich nicht, wozu eine Monarchie eigentlich da ist, stellte er fest. Er brummte: »Der König läßt es diesen Leuten gegenüber an Festigkeit mangeln.«
Lydia sagte: »Das wird ja entsetzlich langweilig.«
Aber Waiden wußte, daß es sie gar nicht langweilte, daß sie es wahrscheinlich sogar sehr aufregend fand. Sie hatte das nur gesagt, weil eine englische Gräfin sich so zu äußern pflegt, und da sie keine Engländerin, sondern Russin war, liebte sie es, typisch englische Ausdrücke zu gebrauchen, so wie manche Leute, wenn sie französisch sprechen, oft Worte wie alors und hein? benutzen.
Waiden ging zum Fenster. Churchills Wagen stand noch immer mit schepperndem und rauchendem Motor im Vorhof. Der Chauffeur stand daneben, die Hand an der Tür wie an einem Pferd, das man am Weggehen hindert. Einige Diener staunten ihn aus sicherer Distanz an.
Pritchard trat ein: »Mr. Winston Churchill.«
Churchill war vierzig, genau zehn Jahre jünger als Waiden. Er war klein und schlank und in einer Art gekleidet, die Waiden etwas zu elegant fand für einen Gentleman. Sein frühzeitig gelichtetes Haar – nur noch eine Strähne auf der Stirn und zwei Locken an den Schläfen –, seine kurze Nase und das ständige spöttische Zwinkern seiner Augen gaben ihm ein schalkhaftes Aussehen. Es war leicht einzusehen, warum die Karikaturisten ihn stets als schelmischen Cheruben darstellten.
Churchill schüttelte Waiden die Hand und begrüßte ihn fröhlich: »Guten Tag, Eure Lordschaft.« Dann verbeugte er sich vor Lydia. »Lady Waiden, ich habe die Ehre.« Waiden fragte sich: Warum geht mir dieser Kerl derart auf die Nerven?
Lydia bot ihm Tee
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