Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
frisch anzustreichen und die zerbrochenen Ziegel zu ersetzen.
Charlotte stand auf. »Komm, der Rest ist ganz einfach«, sagte sie. Es gab eine Leiter zum nächsten Dach, dann einen Plankenpfad und schließlich eine kurze Holztreppe, die zu einer kleinen viereckigen Tür in der Mauer führte. Charlotte entriegelte die Tür und kroch hinein. Jetzt war sie in ihrem Versteck.
Es war ein niedriger, fensterloser Raum mit schräger Decke und einem groben Holzfußboden. Sie nahm an, daß man das Zimmer früher einmal als Lagerraum genutzt habe, aber jetzt schien es völlig vergessen. Eine Tür führte in einen Verschlag neben dem Kinderzimmer, das seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden war. Charlotte hatte dieses Versteck entdeckt, als sie acht oder neun Jahre alt war, und es gelegentlich zu ihrem Lieblingsspiel benutzt – dem Sichverstecken vor Überwachung. Es sah fast gemütlich aus: Kissen auf dem Fußboden, Kerzen in Krügen und eine Schachtel Streichhölzer. Auf einem der Kissen lag ein ramponierter, schlaffer Stoffhund, den Charlotte hier seit acht Jahren verborgen hielt, nachdem die Gouvernante einmal damit gedroht hatte, ihn wegzuwerfen. Ein kleines, wackliges Tischchen, eine angeschlagene Vase voller bunter Bleistifte und eine Schreibmappe aus rotem Leder zählten ebenfalls zu den Schätzen. In Waiden Hall wurde alle paar Jahre Inventar aufgenommen, und Charlotte konnte sich noch gut an das Erstaunen der Haushälterin Mrs. Braithwaite erinnern, als sie das merkwürdige Verschwinden so mancher Dinge festgestellt hatte.
Belinda kroch nun auch hinein, und Charlotte zündete die Kerzen an. Sie nahm die beiden Bücher aus ihrem Kleid und schaute sich die Titel an. Das eine hieß »Medizin für das Heim« und das andere »Die Romanze der Wollust«. Das medizinische Buch wirkte recht vielversprechend. Sie setzte sich auf ein Kissen und schlug es auf. Belinda hockte sich neben sie und blickte schuldbewußt drein. Charlotte hatte das Gefühl, das Geheimnis des Lebens zu entdecken.
Sie blätterte das Buch durch. Es war sehr anschaulich und klar, soweit es Rheumatismus, Knochenbrüche und Masern betraf, aber das Kapitel über die Niederkunft fiel äußerst vage und fast unverständlich aus. Es erläuterte einige geheimnisvolle Dinge wie Krämpfe, das Platzen der Fruchtwasserblase, eine Schnur, die man an zwei Stellen binden und dann mit vorher in kochendes Wasser getauchten Scheren durchschneiden müsse. Offensichtlich war dieses Kapitel für Leute geschrieben, die bereits einiges über dieses Thema wußten. Es gab auch die Zeichnung einer nackten Frau. Charlotte bemerkte sie, war aber zu verlegen, um Belinda aufmerksam zu machen, daß die Frau kein Haar auf einer gewissen Stelle hatte, an der Charlotte ein ganzes Büschel besaß. Dann fand sich ein Querschnitt, der das Baby im Bauch einer Frau zeigte, aber keinerlei Hinweis über die Öffnung enthielt, aus der es herauskommen sollte. Belinda sagte: »Wahrscheinlich müssen die Arzte einen aufschneiden.«
»Und was hat man in den alten Zeiten getan, als es noch keine Arzte gab?« fragte Charlotte. »Jedenfalls taugt dieses Buch nichts.« Sie schlug das andere an einer beliebigen Stelle auf und las laut den ersten Satz vor. »Sie senkte ihren Körper mit lasziver Langsamkeit auf mich herab, bis mein steifes Glied sie völlig durchdrang, und begann daraufhin mit ihren ach so köstlichen Auf-und Abwärtsbewegungen.« Charlotte runzelte die Stirn und blickte Belinda an.
»Ich frage mich, was das bedeuten soll«, sagte Belinda.
Felix Kschessinsky saß reglos in einem Eisenbahnwagen und wartete, daß der Zug den Bahnhof von Dover verließ. Es war kalt im Abteil, und draußen war es noch dunkel, so daß er im Fenster sein Spiegelbild sah: einen hochgewachsenen Mann mit gepflegtem Schnurrbart, schwarzem Mantel und steifem Hut. Ein kleiner Koffer lag im Gepäcknetz über ihm. Er glich einem Reisevertreter für Schweizer Uhren, aber wenn man ihn genauer betrachtete, bemerkte man, daß sein Mantel aus billigem Stoff, der Koffer aus Pappe und das Gesicht nicht das eines Mannes war, der Uhren verkauft.
Felix Kschessinsky dachte an England. Er konnte sich an seine Jugendzeit erinnern, in der er Englands konstitutionelle Monarchie für die ideale Regierungsform gehalten hatte. Die Vorstellung amüsierte ihn, und über das flache, weiße Gesicht, das sich im Fenster spiegelte, huschte die Andeutung eines Lächelns. Schon lange hatte er seine Meinung über die ideale
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