Der Mann, der die Frauen belog - Roman
an das Tischchen unter dem Dielenspiegel. Das Schubfach war leer.
Sonst schien alles unberührt. Die Spielzeugpistole lag noch an ihrem alten Platz auf dem Couchtisch.
Was jetzt? Unterstützung anfordern und zugeben, dass sie sich die Dienstwaffe hatte stehlen lassen? Unmöglich. So was leisteten sich nicht mal Anfänger. Coffey und Riker würden sie damit noch jahrelang aufziehen.
Im Schlafzimmer polterte es. Auf dem Weg durch die Küche griff sie sich eine Weinflasche, dann ging sie dem Geräusch nach. Knolle stand vor den Trümmern einer Lampe. Zwischen seinen Pfoten hingen noch ein paar Lampenschirmfransen. Vom Schlafzimmer aus rief sie Charles an. »Hör zu, Charles. Ich hab’s eilig. Bring mir den Long Colt aus der mittleren Schublade in meinem Schreibtisch. Und die Munition. Du musst aber erst –« Sie legte rasch auf, denn sie hatte wieder ein Geräusch gehört, und nicht immer musste Knolle der Urheber sein. Charles Butlers wiederholtes »Hallo! Hallo?« ging ins Leere.
Im Arbeitszimmer schaltete Mallory so geräuschlos wie möglich Kameras und Tonbandgerät ein, dann ging sie zurück ins Wohnzimmer.
Dort hatte sich der Kater unter der Couch verkrochen, und mitten im Raum stand Harry Kipling. Die Spielzeugpistole lag noch auf dem Couchtisch.
Wann würde Charles ihr eine Waffe bringen, die nicht nur zum Spielen taugte?
»Die Tür stand offen«, sagte Kipling. »Ganz schön leichtsinnig.«
Sie hatte ihm den Zugang erleichtern wollen, aber mit einem Revolver in der Hand hätte sie sich entschieden wohler gefühlt. Jetzt war es zu spät, um Unterstützung anzufordern. Und Charles hatte sich gerade erst auf den Weg gemacht.
Im Bücherregal lag Max Candles Messer, das sie ursprünglich griffbereit für Kipling hingelegt hatte, damit der eine Waffe in der Hand hielt, wenn die Kameras festhielten, wie sie einen Steuerzahler abschoss. Nur hatten sich jetzt die Voraussetzungen geändert. Wo hatte er ihre Kanone versteckt?
Kipling starrte die Spielzeugpistole an.
»Kommt Ihnen bekannt vor, was? Damit haben Sie den Kater abgerichtet. Sobald Knolle einen Revolver sieht, fängt er an zu tanzen. War es der Knall der Zündplättchen? Haben Sie ihm das Ding jedes Mal an den Kopf gehalten, damit er tanzt?«
Der Kater fing an zu schnarchen.
Charles machte die Wohnungstür hinter sich zu. Wozu brauchte sie plötzlich so viele Waffen? Sie hatte doch schon einen schweren Revolver, dazu ihre Dienstwaffe und ein scharf geschliffenes Messer … Aber wer sich eine Tote als Weggefährtin leistete, durfte wohl Mallorys Entscheidungen nicht in Frage stellen. Während er über den Flur ins Büro von Mallory & Butler ging, überlegte er, welche seiner vielen dummen Bemerkungen sie wohl am meisten geärgert hatte. Fehlende Logik hatte er ihr vorgeworfen und dass sie ihre Gegner unterschätzte und …
Sie hatte ihn nach einem Blinden ausgefragt. Den hatte sie demnach nicht unterschätzt. Und nun legte sie sich ein Waffenlager an. Das sprach zumindest für Voraussicht. Wie stand es denn mit seiner Logik?
Vielleicht hatte er, das große Genie, alles gründlich missverstanden. Was hatte ihn geritten, sich auf Coffeys Seite zu schlagen? Zunächst war ihm das durchaus sinnvoll erschienen, aber jetzt? Vielleicht hatte Coffey nur Angst gehabt, sie könnte sich zu sehr auf einen Verdächtigen festlegen. Riker hatte ihn mit Recht zur Ordnung gerufen. Er hatte sie einfach nicht ernst genug genommen. Jetzt durfte er sie nicht im Stich lassen.
Er schloss Mallorys Büro auf und trat an den Schreibtisch. Die mittlere Schublade war abgeschlossen, und er hatte keinen Schlüssel. Für Mallory mochte das kein unüberwindliches Hindernis sein, aber nicht jeder war so versiert im Umgang mit fremdem Eigentum wie sie. Er nahm den Brieföffner zur Hand, ein unersetzliches altes Stück, das er ihr einmal geschenkt hatte. Einen Augenblick zögerte er noch, dann schob er die Klinge in den Spalt über der Schublade, um sie mit Gewalt aufzubrechen.
Als Vorwarnung ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen, dann stürmte ein Getöse lautsprecherverstärkter Gongs und Glocken auf ihn ein. Typisch Mallory: Da sie seine Technikfeindlichkeit kannte, hatte sie für die Alarmanlage keine banalen Piepser oder Sirenentöne gewählt, sondern das Geläut von Kirchenglocken aus seiner Schallplattensammlung. Er kam sich vor wie im Glockenturm, ja, wie in der Glocke selbst, und hielt sich die Ohren zu. Irgendwie würde vielleicht sogar er es schaffen, diese
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