Der Mann, der die Frauen belog - Roman
die Triebkräfte in der Familie Riccalo durchschaut. Sah sie bei Justin verräterische Anzeichen von Missbrauch? Oder hatte sie in ihm tatsächlich etwas entdeckt, was sie an sich selber nicht mochte, wie der Junge behauptet hatte? Aber es gab auch eine ganz simple Erklärung dafür, dass sie Dinge durchschaute, die er, Charles, nicht erkannte: Ihr fehlte das Herz.
»Manchmal können sie Liebe nicht erwidern«, sagte Amanda, die sich als genauso beharrlich erwies wie eine lebendige Frau. Als er in ihr trauriges Gesicht sah, wich seine Furcht, und Neugier regte sich.
»Deine Liebe wurde auch nicht erwidert.«
»Nein.«
»Und als du diesen Mann dann näher kanntest, verdrängte die Verachtung alle anderen Empfindungen. Habe ich recht?«
»Ja. Aber du wirst Mallory nie verachten. Meine Verachtung galt seiner Schwäche. Sie aber ist ein ungewöhnlich starker Mensch, und das macht dir manchmal Angst, nicht wahr? Du kommst nicht mehr von ihr los, Charles. Da war ich besser dran. Mir jedenfalls ist – auch in einer Beziehung zwischen Mann und Frau – ein Ende mit Schrecken allemal lieber.«
»Letztlich ging es dir nur um das Kind.«
»Ja.«
»Warum hast du dem Arzt dann gesagt, er solle es aus dir herausschneiden?«
»Ich bin belogen worden.«
Ihre Schritte wurden immer leiser, während sie neben dem einsamen Mann herging, der einen Schatten für sie beide warf. Er hatte diesmal keine besonderen Anstrengungen unternommen, um sie heraufzubeschwören, und das hätte ihn eigentlich beunruhigen müssen. Trotzdem war er seltsam froh über ihre Gesellschaft.
»Weißt du, warum Mallory dir mein Manuskript gegeben hat?«
»Damit ich es gründlich lese. Sie hoffte wohl, ich würde auf den ein oder anderen wichtigen Fingerzeig stoßen.«
»Du weißt, dass sie das Manuskript selbst gelesen hat, Wort für Wort, ehe sie es an dich weitergab …«
»Ja, natürlich.«
»Es war die Liebe zu dem Kind, die sie nicht verstand. Dass ich meinen Lebensplan ganz auf ein ungeborenes Kind abstellen konnte, war ihr unbegreiflich.«
»Aber Mallory hat in ihrem Leben sehr viel Zuwendung erfahren. Helen und Louis haben sie abgöttisch geliebt.«
»Ja, aber durch das Leben auf der Straße, das sie vorher geführt hat, war schon zu viel zerstört worden. Was ist mit Mallorys leiblicher Mutter? Wie kam es, dass ein so schönes und intelligentes kleines Mädchen, das wohl jede Frau gern als Tochter gehabt hätte, zum Straßenkind wurde? Wie kam es, dass sie plötzlich von aller Welt verlassen war? Suchst du noch immer nach Berührungspunkten zwischen Mallory und dem Jungen? Ihre Lebensgeschichte könnte dir weiterhelfen. Was weißt du über ihre frühe Jugend?«
Charles seufzte. »Mallory ist ein sehr verschlossener Mensch. Über ihre Vergangenheit haben wir nie gesprochen.«
»Wenn du nicht immer auf deiner Logik und deinen Fakten herumreiten würdest, wärst du vielleicht schon von selbst auf den Gedanken gekommen, dass Mallorys Mutter tot ist. Dass sie möglicherweise ermordet wurde.«
»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt, Amanda?«
»Meinst du? Mallory sagt eine Gewalttat im Hause Riccalo voraus. Du siehst eine Beziehung zwischen ihr und dem Jungen. Beide haben die Mutter verloren. Macht dich das nicht nachdenklich? Was trieb dieses Kind auf die Straße? Wovor war es auf der Flucht?«
»Vielleicht ist sie als Kind missbraucht worden?«
»Von ihrer Mutter? Nein. Mallory hat Helen vom ersten Augenblick an geliebt. Irgendwo hat sie die Erfahrung gemacht, dass man zu Frauen, die einem zu essen geben, aufgeschürfte Knie versorgen und Liebe schenken, Vertrauen haben kann. Wenn nun Mallory den Mord an ihrer Mutter mit angesehen hätte?«
»Es gibt nichts, was für eine solche Annahme spricht. Jetzt fehlt nur noch, dass du mir erzählst, Justin hätte seine Mutter sterben sehen und das sei die Verbindung zwischen den beiden. Gedanken lesen kann auch Mallory nicht.«
»Wer kann schon sagen, was sie in seinen Augen liest und er in ihren … Justins Verhalten, seine Sprache haben nichts Kindliches. Mallory war als kleines Mädchen vermutlich genauso. Dass sie beide seelische Schäden davongetragen haben, ist doch unbestreitbar.«
»Eigentlich habe ich dich ja nur geschaffen, um zu erfahren, wer dich umgebracht hat …«
»Ja, aber war das deine Idee? Sie hat dir mein Manuskript erst gegeben, als ihr klar war, dass du mich mit Hilfe meiner Lebensbeichte würdest zurückholen können.«
Konnte eine Frau wirklich so raffiniert
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