Der Mann, der ins KZ einbrach
ergriff Susannes Hand und wiederholte leise: »Gingy.« Ich höre noch heute, wie er das Wort zum ersten Mal aussprach.
Ernies Gesicht leuchtete auf. Den Kopf zur Seite geneigt, blickte er in die Ferne, während er mein rotes Haar beschrieb, und er lächelte, als er sich an mich als jungen Soldaten erinnerte.
In den Einzelheiten wichen seine Erinnerungen ein wenig ab. Er sagte, ich hätte mir Susannes Adresse aufgeschrieben. Ich war mich sicher, sie mir eingeprägt zu haben, aber eines war klar: Ernst hatte sich an mich erinnert, und nur das zählte.
Er gab die ganze Geschichte mehr oder weniger genau so wieder, wie ich sie erzählt habe. Er erinnerte sich, dass ich ihm hier und da eine Zigarette zugesteckt hatte, wenn niemand hinschaute. Einige Monate später hatte ich ihn dann herangewunken. Ernst rang um Worte, als er endete. »Er gab mir einen Brief«, sagte er und schluckte, als er um Fassung rang, »dazu zehn Schachteln Zigaretten und eine Tafel Schokolade von meiner Schwester.« Seine Augen schimmerten.
Und hier saßen wir nun, Audrey, Susanne und ich mit Peter und dessen Frau, und hörten Ernie zu, wie er seine Geschichte in meinem Haus in Derbyshire erzählte, fünfundsechzig Jahre nachdem sie sich zugetragen hatte. Es war wie eine Nachricht aus dem Jenseits.
Ernie sagte, er wisse nicht, ob er als Einziger so viel Glück gehabt hatte, denn er habe es nie jemandem weitererzählt. Ihm sei klar gewesen, dass er mich damit in Lebensgefahr gebracht hätte, also habe er den Mund gehalten. Ich war gerührt.
Was ich getan hatte, war nur eine Winzigkeit gewesen angesichts der Verbrechen, die Ernie erduldet hatte, aber ich merkte ihm an, wie wichtig ihm die Sache gewesen war. »Zehn Päckchen englischer Zigaretten«, sagte er, als wollte er es noch einmal unterstreichen, »das war so, als hätte ich das Rockefeller Center geschenkt bekommen.«
Er war 1944 in Auschwitz III gewesen, einen Herzschlag vom Vernichtungslager entfernt, und ich hatte ihm einen Brief von seiner Schwester in England übergeben. Als er fünfzig Jahre später davon erzählte, schien er darüber noch genauso verwundert zu sein wie damals.
Aber wie hatte er den Todesmarsch überlebt? Das hatte er noch immer nicht erklärt. Ich justierte mein Hörgerät neu, damit ich kein Wort verpasste, als er zu erzählen begann, was er mit den Zigaretten angestellt hatte.
Viele hatte er gegen »zukünftige Gefälligkeiten« eingetauscht, wie er es nannte. Selbst in Auschwitz hatte Ernie seine Großzügigkeit nicht verloren. Einige Zigaretten hatte er einem Freund geschenkt, den er Mecky nannte; andere hatte er einem Mann gegeben, der mit dem gleichen Transport aus Breslau eingetroffen war, damit er es ein bisschen leichter hatte. Weitere Zigaretten hatte er seinem Kapo gegeben, zweifellos, um sich Schutz zu erkaufen. Und dann kam er auf den springenden Punkt.
»Meine Schuhsohlen waren sehr, sehr dünn geworden«, sagte er. »Natürlich gab es im Lager Schuster, und ich ließ mir für zwei Päckchen englische Players neue dicke Sohlen unter die Schuhe machen.« Jetzt fügte sich alles zusammen. »Und diese Schuhe«, fuhr er fort, »haben mir auf dem Todesmarsch von 1945 das Leben gerettet.«
Da hörten wir es. Wie einfach es doch war: An den Schuhen hatte es gelegen. Ich war über die vielen Leichen hinweggestiegen: Menschen, die ausgerutscht waren und erschossen wurden, die Erfrierungen bekamen und erschossen wurden, denen die Holzschuhe in die geschwollenen Füße schnitten, bis sie nicht mehr weiterkonnten und erschossen wurden. Ernie hatte die Zigaretten benutzt, um sich das eine zu beschaffen, was den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte: festes Schuhwerk.
Er schilderte, wie er im Vergleich zu anderen Häftlingen im Konzentrationslager außerordentliches Glück gehabt hatte. Als die Russen anrückten und die SS die Evakuierung von Auschwitz veranlasste, war er besser darauf vorbereitet gewesen als viele andere. Er sprach Deutsch; er besaß ein wenig Brot, das er sich vom Munde abgespart hatte; er verfügte über Zigaretten, die er eintauschen konnte, und über Schuhe, die sich für einen langen Marsch eigneten. Als die SS die Häftlinge forttrieb, hatte Ernst sich überlegt, dass er vorn in der Kolonne am besten aufgehoben sei. Er ahnte, dass der Platz beschränkt sein würde, ganz gleich, wohin sie gingen. Die am weitesten hinten marschierten, würden am Ende vielleicht im Eis übernachten müssen.
Er beschrieb den tiefen Schnee und die
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