Der Mann, der ins KZ einbrach
Zigaretten seien bei Ernie angekommen. Dieser Brite war ein merkwürdiger Mann gewesen, der frisch aus der Gefangenschaft gekommen war.
Der Mann war ich. Ich hatte einen Krieg hinter mir und eine strapaziöse Gefangenschaft, und ich hatte den Marsch durch Mitteleuropa überlebt und war wieder zu Hause. Damals hatte ich sehr viel Gewicht verloren und war drauf und dran, auch noch den Verstand zu verlieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich einen schrecklichen Eindruck auf Susanne gemacht habe, und ich habe damals kaum einen Versuch unternommen, ihre Ängste zu beschwichtigen. Vor vierundsechzig Jahren war ich in ihr Leben spaziert und spurlos wieder verschwunden.
Nach den Filmaufnahmen folgte eine lange Pause. Ich hörte kaum noch etwas von Rob oder Patrick und fragte mich immer öfter, was los war. Dann kam Susannes Sohn Peter ins Spiel, der mit seiner Frau in den USA lebt. Von Susanne hatte Rob erfahren, dass Ernst seine Lebensgeschichte vom USC Shoah Foundation Institute hatte aufzeichnen lassen. Die Stiftung sammelt Videoaussagen von Holocaustüberlebenden. Im Laufe der Jahre ist sie zu einem gewaltigen Archiv der finstersten Erinnerungen des Jahrhunderts angewachsen. Peter besaß eine Kopie des Interviews, das Ernie – so werde ich ihn von nun an nennen – 1995 gegeben hat.
Rob rief Peter in Amerika an, nur um zu erfahren, dass Susanne ihm zuvorgekommen war und ihrem Neffen mit großer Begeisterung vom Besuch der Reporter erzählt hatte. Rob schilderte Peter die Geschichte, soweit er sie zu diesem Zeitpunkt kannte, und bat ihn, sich das Interview mit Ernie anzuschauen, ob dort, egal wie flüchtig, ein britischer Kriegsgefangener erwähnt wird, der Ernie während seiner Zeit in Auschwitz geholfen hatte.
Rob wusste, dass ich im Lager einen falschen Namen benutzt hatte. Wenn ich mich überhaupt zu erkennen gegeben hatte, dann als »Ginger«. Rob gab diese Information an Peter weiter, der sich mit großer Zuneigung an seinen Onkel erinnerte. Er erklärte sich bereit, sich das Interview anzuschauen, obwohl es mehrere Stunden lang war.
Zwei Tage später war Rob auf dem Nachhauseweg von der Arbeit. Er war später dran als üblich und fuhr über den Bahnhof Blackfriars in London. Der Winter nahte, es war schon dunkel, und der Wind war feucht und kalt. Um die Zeit totzuschlagen, ging er ans Ende des Bahnsteigs, der über die Themse ragt, um die Aussicht zu genießen. Während er über das schwarze spiegelnde Wasser hinweg zur Kuppel der St. Paul’s Cathedral blickte, klingelte sein Handy.
Peters Stimme drang über die statisch knisternde transatlantische Verbindung zu ihm. »Ich habe mir das Video angesehen. Es ist unglaublich«, sagte er. »Rob, das müssen Sie sich unbedingt anschauen.«
21. Kapitel
N ach all den Jahren war ich ganz wild darauf, mit Susanne zu sprechen. Ich musste erfahren, was aus Ernie geworden war und wie er überlebt hatte. Außerdem wollte ich ihr mein seltsames Verhalten von damals erklären.
Rob sagte, er wolle nicht, dass wir telefonierten. Er werde ein Treffen arrangieren, damit sie die ersten Worte, die Susanne und ich wechselten, mit der Kamera festhalten konnten. Weil Rob und Patrick unser Wiedersehen erst ermöglicht hatten, willigte ich ein.
Dann rief Rob an und sagte mir, es gebe eine Verzögerung. In ein paar Wochen kämen Peter und seine Frau Lynn aus Amerika nach England. Susanne wollte so lange warten; dann kämen sie zu dritt nach Derbyshire. Das schien mir eine gute Idee zu sein. Ein paar Tage vor dem Termin unseres Treffens rief Rob erneut an und schlug vor, dass wir nach den Dreharbeiten alle zum Mittagessen in einen Pub gingen. Ich war von diesem Vorschlag nicht sehr angetan, denn ich wollte nicht, dass unser Treffen in der Öffentlichkeit stattfand. Audrey würde für uns kochen, was könnte besser sein? Später erklärte Rob mir, er habe sich gesorgt, ob wir uns nach so langer Zeit überhaupt noch etwas zu sagen hätten.
Ich verstand seine Besorgnis. Immerhin waren wir nach dem Krieg keine dicken Freunde gewesen. Ich hatte Susanne aus Pflichtgefühl aufgesucht und dabei erkannt, dass nichts, was ich sagen konnte, ihr geholfen hatte. Nach vierundsechzig Jahren mussten sich selbst einst enge Freunde neu kennenlernen, und wir fingen bei null an.
Dann kam der große Tag. Ich wollte mir Mühe geben; deshalb band ich mir eine blau-goldene Seidenkrawatte um und zog dazu eine gemusterte Weste an. Ich verschwende nie viele Gedanken an meine
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