Der Mann, der ins KZ einbrach
Kleidung, aber Susanne und die anderen kamen von weither, um mich zu besuchen, und jünger wurde keiner von uns.
Rob, Patrick und die Kameraleute erschienen früh. Audrey machte Tee, und dann standen wir zusammen und plauderten. Die anderen waren nervöser als ich. Robs Handy klingelte, und er ging nach draußen, um besseren Empfang zu haben. In der Nacht hatte es geregnet, und die Luft war feucht. Er kam wieder herein, teilte uns mit, der Wagen sei gekommen, und ging wieder hinaus, um ihnen den Weg zu zeigen.
Ich wollte nicht abwarten, bis es klingelte, und folgte ihm nach draußen. Und da stand sie. Sie trug einen grauen Mantel mit Pelzkragen und ein rotes Halstuch. Sechs Jahrzehnte sind eine lange Zeit, aber sie kam forschen Schrittes den Gartenweg entlang, begleitet von ihrem Sohn und dessen Frau. Als sie die Stufen zum Haus hinaufstieg, blickte sie zu mir hoch und sagte lächelnd: »Hallo.« Ich nahm sie bei der Hand, als sie die Tür erreichte, wo ich sie zum ersten Mal deutlich erkennen konnte.
»Susanne«, sagte ich und beugte mich vor, um sie zuerst auf die eine, dann auf die andere Wange zu küssen. »Wie geht es Ihnen, meine Liebe?«
»Es ist wunderbar, Sie zu sehen«, antwortete sie. »Einfach wunderbar.«
Ich hielt sie bei den Händen, und wir konnten uns endlich eingehend betrachten. »Es ist über sechzig Jahre her«, sagte ich und führte sie und die anderen ins Haus.
»Sie wohnen sehr schön«, bemerkte Susanne. Ihr gefiel die Aussicht aus dem Panaromafenster. »Das freut mich für Sie …«
Man hatte mich gewarnt, dass sie schüchtern sei, aber so kam sie mir eigentlich gar nicht vor. Später sagte sie, noch im Auto hätten die sanften Hügel des Peak District ihre Stimmung gehoben und ihr die Befangenheit genommen.
»Sie waren größer, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe«, sagte ich frech.
»Ich bin geschrumpft.«
»Willkommen im Klub.«
»Sie waren sehr groß«, sagte Susanne. »Das ist alles, was ich noch von Ihnen weiß.«
Himmel, nach all der Zeit war es wunderbar, sie wiederzusehen, aber ich durchlebte unser erstes Treffen in Gedanken noch einmal. Ich hatte das Gefühl, die eigentümliche Begegnung von 1945 stünde nach wie vor zwischen uns, und ich wollte sie endlich von der Seele haben.
»Ich habe versucht, mich zu erinnern, was ich zu Ihnen gesagt habe«, begann ich. »Es muss schrecklich gewesen sein, denn ich war so durcheinander, dass ich Ihnen nichts erklären und auch nicht sagen konnte, was ich empfand.«
Sie nickte.
Wir sprachen über die Briefe an meine Mutter und die Zigaretten für Ernie, die sie mir geschickt hatte. »Sie haben das großartig gemacht«, sagte ich. »Die Zigaretten waren für Ernst wie Gold, das vom Himmel fiel.« Zu der Zeit benutzte ich noch seinen ursprünglichen Namen.
»Wir hatten Krieg. Es war das Mindeste, was ich tun konnte«, sagte Susanne. »Mein Bruder war ein wunderbarer Mensch. Er hatte ein Herz aus Gold. Man musste ihn einfach gernhaben.«
Ich erzählte, wie er in der »Bude« auf der IG -Farben-Baustelle beinahe erwischt worden wäre. Er war ein intelligenter Bursche und hatte immer kühlen Kopf bewahrt.
»Oh, das ist wunderbar«, sagte Susanne. »Und die ganzen Jahre haben Sie nicht gewusst, dass Ernie noch lebt?«
»Ich wusste nicht einmal, ob er das KZ überlebt hatte«, erwiderte ich.
»Die vielen Jahre? Meine Güte.« Sie hob den Blick zu mir. »Ich wünschte, er wäre heute hier.«
»Ich auch«, sagte ich. »Ich auch.«
Bis zu mir durchgedrungen war, was Susanne gesagt hatte, vergingen ein paar Sekunden. Ernst war die ganze Zeit in Amerika gewesen. Wir hätten uns ohne große Probleme treffen können. Ich hatte den nächsten Satz schon halb ausgesprochen, als mir dies vollends klar wurde. Ich richtete mich auf und hatte plötzlich Mühe, weiterzusprechen. »Ich hätte gern ein Foto von ihm«, sagte ich, »und die Gelegenheit, mit seiner Familie zu sprechen.«
»Sie freuen sich bestimmt alle darauf«, sagte Susanne, aber ich hörte sie schon nicht mehr, denn mit einem Mal übermannte mich alles: die Neuigkeiten über Ernst, die schrecklichen Erinnerungen und die jahrzehntelang unterdrückten Gefühle. Mir schnürte sich die Kehle zu, und ich schlug die Hände vors Gesicht und krümmte mich zusammen, als wäre ich außer Atem, und das vor einer Frau, die ich kaum kannte. Ich spürte, wie mir die Tränen, die ich nie hatte vergießen können, in die Augen stiegen.
»Verzeihen Sie«, sagte ich mit gebrochener Stimme,
Weitere Kostenlose Bücher