Der Mann, der ins KZ einbrach
Gesicht sehen, ohne mich anzustrengen. Jede Änderung des Ausdrucks oder plötzliche Aufmerksamkeit war ein mögliches Anzeichen von Gefahr. Wenn ein Kapo mich verriet, bekam er vielleicht eine Belohnung, riskierte dabei aber, ebenfalls in Verdacht zu geraten. Blickkontakt mit einem Wärter gab es nicht. Nichts geschah. Ich atmete ein bisschen ruhiger.
Als das letzte Durchzählen und Wiederdurchzählen abgeschlossen waren und man die Zahlen für übereinstimmend erklärt hatte, durften wir abtreten, und die Schattenmenschen um mich erwachten. Ich musterte die Reihen knochiger Gesichter und suchte in der Menge verhärmter Häftlinge nach den Männern, denen ich folgen musste. Ich konnte es mir nicht leisten, Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, indem ich orientierungslos erschien. Wäre ich zur falschen Baracke gegangen, hätte ich mich sofort als Lagerfremder zu erkennen gegeben. Ich war angespannt, und mein Puls raste, aber ich durfte mir nichts anmerken lassen. Ich musste weiter stark denken und mich schwach geben.
Die Insassen schlurften bereits davon, als ich einen meiner Gewährsleute entdeckte. Stumm ging ich hinter ihm her zu seiner Baracke. Wir gelangten in einen schmalen Gang, der zur Schlafkammer führte.
Ich würgte wegen der schlechten Luft, als ich mich hindurchzwängte. Die Männer mussten sich auf primitive Holzpritschen quetschen, die zu dritt übereinander in den winzigen Räumen standen.
Viele kletterten hinein und brachen vor Erschöpfung zusammen. Ich folgte meinen beiden Bettnachbarn, ohne ein Wort zu sagen. Es war die enge Pritsche, die sie normalerweise mit Hans teilten. Ich kletterte hinein und verbarg mich, um zu beobachten und zu lauschen.
Anstatt der Länge nach an der Wand zu liegen, lagen wir mit dem Kopf oder den Füßen zur Wand, zu dritt nebeneinander. Weil die Pritsche nicht viel länger war als anderthalb Meter, musste ich die Beine einziehen, damit ich überhaupt hineinpasste. Außerdem bedeutete es, dass der in der Mitte Liegende links und rechts neben dem Kopf ein übel riechendes Paar Füße hatte.
Ich lag mit dem Kopf zur Wand, während meine Füße zum Gang zeigten, sodass niemand mein Gesicht sehen konnte. Hinter dem Kopfende befand sich eine niedrige hölzerne Trennwand; dahinter stand eine weitere Etagenpritsche mit weiteren Häftlingen. Im Augenblick lagen meine Bettgenossen Kopf an Kopf, und ich konnte einen ersten Blick aus der Nähe auf sie werfen. Beide Gesichter waren müde und verhärmt und wirkten älter, als sie an Jahren zählten; zugleich aber sahen sie kräftiger aus als viele andere.
Einer war deutscher, der andere polnischer Jude. Mit dem Deutschen konnte ich mich besser unterhalten. Ich beherrschte zwar nur ein paar Brocken Deutsch, aber er sprach ein bisschen Englisch. Die Lagersprache war Deutsch, aber das bedeutete nicht, dass jeder sie gut beherrschte. Mit dem Polen konnte ich mich kaum verständigen.
Aus dem Flur in der Nähe des Eingangs erklangen laute, aufgeregte Stimmen in mir fremden Sprachen. Es hörte sich an, als würde gestritten. Das nächtliche Feilschen, von dem ich so viel gehört hatte, war im Gange. Alles, was man während des Tages hatte beiseiteschaffen können, alles, was man irgendwie benutzen konnte, so verrückt es auch war, wurde hier von den Männern getauscht, die sich in dem Gang drängten. Ein Knopf, ein Baumwollfaden – alles hatte einen Wert, sogar ein krummer Nagel. Wenn sich irgendetwas zu Brauchbarem verarbeiten ließ oder wenn jemand etwas suchte, konnte es getauscht und wieder getauscht werden, und dafür bekam man ein paar zusätzliche Kalorien.
Ich hatte keine Uhr, aber dem Licht nach, das draußen bei unserer Ankunft geherrscht hatte, und der Zeit, die seither verstrichen war, nahm ich an, dass wir sieben oder acht Uhr abends hatten. Die meisten Männer um mich her waren ausgelaugt und bewegten sich nur, wenn es nötig war. Sie lagen reglos da und versuchten, Energie zu sparen.
Als ich ein metallisches Klappern hörte, wäre ich beinahe hochgeschreckt. Ein weiterer widerlicher Gestank breitete sich aus: Die Abendsuppe war in einem großen Bottich gekommen. Die Baracken waren gerammelt voll und nicht gelüftet, doch der beißende Brodem dieser Suppe überlagerte alle anderen Gerüche. Die Häftlinge stellten sich eilig an, streckten ihre Schalen vor und humpelten zu den Pritschen zurück, um zu essen.
Ich blieb liegen. Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen, und ich hätte die Suppe sowieso nicht
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