Der Mann, der ins KZ einbrach
improvisierten Bahre rutschen würde. Wenn nicht schnellstens etwas geschah, gab es Schwierigkeiten.
Rasch und ohne Aufheben schob einer der Kameraden des Trägers die Leiche zurück und spreizte ihr grob die Beine, sodass sie zu beiden Seiten des dünnen Brettes herunterhingen und die Füße durch den Dreck schleiften. Sein rasches Eingreifen verhinderte, dass der starr werdende Leichnam auf seiner holprigen letzten Reise zu Boden rutschen konnte. Der Tote hielt sich nun selbst auf dem Brett und half seinen hinfälligen Sargträgern bei seinem trostlosen Leichenzug, an dessen Ende keine Trauerfeier stehen würde, keine Tränen, gar nichts.
Schließlich schlurfte die Kolonne müde los. Wenn noch eine Gelegenheit bestanden hätte, mein Vorhaben abzublasen, so war sie nun verstrichen. Ich hatte meine Kameraden zurückgelassen. Alles, was vertraut und vorhersehbar war, verschwand hinter mir. Die Holzschuhe saßen locker und das Gehen war mühsam; ich musste fest mit den Zehen zugreifen, damit die Schuhe mir nicht abrutschten. Die Lumpen, mit denen ich mir die Füße umwickelt hatte, halfen ein bisschen; dennoch scheuerten die Schuhe schrecklich. Wenigstens halfen sie mir, den schlurfenden Gang nachzuahmen.
Bald waren wir außerhalb der Fabriktore. Wieder gab es irgendwo in der Kolonne Aufregung, und wir blieben stehen. Ich versuchte gefasst zu bleiben oder mich wenigstens wie die anderen zu verhalten, aber ich wollte sehen, was vor sich ging, ohne neugierig zu erscheinen. Ich hörte Gebrüll. Die Aufseher prügelten auf jemanden in der Kolonne ein. Unterdrückte Erregung durchlief die Reihen. Die Häftlinge hatten so etwas schon oft miterlebt, genauso wie ich, aber diesmal war ich kein Zuschauer. Ich gehörte zu ihnen. In meiner Häftlingskleidung hatte ich in den Augen der Wärter bereits zu existieren aufgehört. Mein Leben konnte genauso leicht ausgelöscht werden wie das der Juden um mich herum. Als ich meinen Plan geschmiedet hatte, mit Hans die Rollen zu tauschen, hatte ich das Gefühl gehabt, die Fäden in der Hand zu halten, weil ich wieder die Initiative ergriff, doch in Wirklichkeit war ich ebenso machtlos wie die Häftlinge um mich her. Ich wusste jetzt, dass ich sehr viel Glück brauchte.
Bald waren wir wieder unterwegs. Es war kein langer Marsch, aber er war mühselig und lethargisch. Für die Männer, zwischen denen ich ging, bedeutete jeder Schritt eine Kraftanstrengung. Man stelle sich einen zum Tode Verurteilten vor, in Handschellen, müde und von schrecklichen Vorahnungen geplagt. Genau so waren diese jüdischen Häftlinge, und genau so versuchte ich nun zu erscheinen. Ich betrat ein unbekanntes Land.
Wenn ich durch die Reihen vor mir spähte, als wir weiterschlurften, fiel mein Blick immer wieder auf die schlaffen Leichen. Ein Arm wurde hin und her geworfen. Ein Bein schwang vor und zurück wie ein Pendel, weil es bei jedem Schritt auf dem Boden hängen blieb, über den wir gingen. Die Leichenträger zeigten nun Anzeichen von Erschöpfung. Ihre Rücken krümmten sich unter dem Gewicht, und knotige Finger drohten den Halt zu verlieren, während sie weiterwankten.
Plötzlich, ohne Vorwarnung, brach ein Mann zusammen. Die Leiche, die er trug, fiel zu Boden. Augenblicklich kam es zu einem Ausbruch roher Gewalt. Ich hörte das klatschende Geräusch auftreffender Fäuste, die dumpfen Schläge von Gewehrkolben, das Krachen von Knüppeln, die auf zerbrechliche Körper niedersausten.
Ein anderer Häftling übernahm die Last, und wir schleppten uns weiter. Die Füße der Geschundenen schleiften über den Boden, als sie mit kraftlosen, hoffnungslosen Schritten voranschlurften. Auf dem Marsch kam es zu weiteren vier Unterbrechungen. Jedes Mal hörte ich die Schläge der Wärter, die Rippen oder Schultern trafen.
Mittlerweile war unser Ziel zu sehen – ein ausgedehntes, überfülltes Lager mit niedrigen Baracken, umschlossen von einem überhängenden Doppelzaun aus Stacheldraht. Irgendwo dazwischen verlief ein blankes Kabel, das unter Hochspannung stand. Von den Wachtürmen aus, die sich in regelmäßigen Abständen erhoben, wurde das Lager unter ständiger Beobachtung gehalten. SS -Wärter patrouillierten am Zaun entlang. Wir verließen den Hauptweg und näherten uns dem Eingang. Es war noch hell, als wir das Tor durchschritten. Ich sah die Inschrift mit der grausigen Verheißung »Arbeit macht frei«.
Ich ahnte damals nicht, dass man die schreiende Ironie dieser Worte noch Jahrzehnte später vernehmen
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