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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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neben der Kolonne aufgehäuft lagen. Solange die Kapos einen Kopf im Schmutz liegen sahen, zählten sie ihn als Körper; solange die Zahlen von Morgen und Abend übereinstimmten, war es für sie völlig bedeutungslos, ob dieser Körper lebte oder tot war.
    Wenn ein Kapo einen Fehler beging, musste er die Schuld auf die Häftlinge abwälzen, um seine eigene Haut zu retten. Das konnte einen Faustschlag oder eine Tracht Prügel bedeuten, manchmal auch einen Hieb mit dem Gewehrkolben oder Schlimmeres, falls die SS ins Spiel kam. Auf die Kapos wurde Druck ausgeübt, und die Kapos gaben diesen Druck an die Häftlinge weiter. So funktionierte das. Ich hatte es aus der vergleichsweise sicheren Lage eines Kriegsgefangenen schon oft beobachtet. Die Kapos verabscheute ich deswegen umso mehr.
    Als das Abzählen vorüber war, wiederholten sie es, um sicherzugehen. Zu beiden Seiten der Kolonne standen wachsame SS -Männer mit schussbereiten Waffen, während der Kapo die Reihen entlangflitzte und mit Händen und Fingern gestikulierend die Leute abzählte. Ich hatte meine Aufmerksamkeit währenddessen auf den Weg gerichtet, der vom Gelände führte, und versuchte, die nächste Gefahr vorherzusehen.
    Von meiner Position in der Mitte einer Reihe, eingezwängt zwischen den gekrümmten Schultern von Männern, die morgen schon tot sein konnten, war der Berg der Leichen des heutigen Tages, der sich neben der Kolonne auftürmte, nur schwer zu sehen. Es war beinahe so, als würden die dreckstarrenden Lumpenbündel mit ihrem verschwommenen menschlichen Umriss bereits in der Erde versinken.
    Für einige bedeutete der Tod ohne Zweifel Erlösung. Qualen und Bewusstsein wurden ausgelöscht. Immer wieder brachen KZ -Häftlinge bei der Arbeit zusammen und starben unbemerkt im Schmutz, während ringsum weitergeschuftet wurde. Andere wurden so lange getreten und geprügelt, bis der Tod sie erlöste.
    Ich schrak zusammen, als es am Leichenberg zu einem plötzlichen Ausbruch von Aktivität kam. Die Häftlinge schleiften die Toten über den Boden und warfen sie auf dünne Bretter, die als improvisierte Tragen benutzt wurden. Gefühle zeigten sie dabei keine. Die Toten stellten nur eine weitere Bürde für sie dar, diesmal aus Haut und Knochen, aber die Gliedmaßen derer, die sie trugen, zitterten unter der Last. Es gab nicht genügend Bretter, und einige Häftlinge mussten die sterblichen Überreste ohne behelfsmäßige Trage schleppen. Sie packten die Toten an Armen oder Beinen oder griffen in deren abgewetzte Sträflingskleidung. Eine Leiche fallen zu lassen bedeutete eine Verzögerung und wurde mit Prügel bestraft, die hier noch rascheren Verfall und einen schnelleren Tod bedeuteten.
    Die Häftlinge mit den Brettern teilten das Gewicht zwischen zwei oder mehr Kameraden auf. Selbst hier regte sich der menschliche Erfindungsgeist: Ein Mann hatte ein Seil unter dem Holzbrett hindurchgeführt und es sich über die Schultern gelegt, um die Last auf seine dürren Arme zu verringern. Sie alle hier wussten, dass weitere Erschöpfung ihr Leben noch mehr verkürzte.
    Nachdem sie sich die Toten aufgeladen hatten, kehrten die Träger in die Reihen zurück. Ich war schrecklich aufgewühlt, kämpfte aber jede Empfindung nieder. Meine Abwehrmechanismen arbeiteten auf Hochtouren. Ich durfte nicht denken, musste nur handeln. Zu viel Nachdenken hätte meine Entschlossenheit gemindert und Gefahr heraufbeschworen. Wenn man eine fremde Sprache fließend sprechen möchte, muss man in dieser Sprache denken. Ähnlich verhielt es sich mit mir inmitten dieser Schattenwesen. Ich musste genauso akzeptieren, was mit ihnen geschah, wie sie selbst. Ich musste denken und handeln wie sie.
    Nach wochenlangem Pläneschmieden und geistiger Vorbereitung stand der Erfolg meines Vorhabens auf Messers Schneide. Meine kühle Zielstrebigkeit kehrte zurück. Es war wieder wie auf einem Spähtrupp in der Wüste. Mir blieben nur Sekundenbruchteile, um die Situation einzuschätzen und entsprechend zu reagieren. Meine Sinne mussten geschärft bleiben, sonst bekam ich eine Kugel verpasst.
    Mein Puls raste – und das in einem Körper, dem Apathie und Hoffnungslosigkeit aus jeder Pore strömen mussten, um die Täuschung aufrechtzuerhalten. Hier und jetzt konnte ich mich nicht wehren. Es war eine andere Art von Einsatz, aber dennoch ein Einsatz. Ich musste Zeuge sein können. Nichts durfte mich daran hindern.
    Ich blickte in der Kolonne nach vorn und sah, dass eine der Leichen von der

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