Der Mann, der kein Mörder war
Hotelflur vorbeikommen, würde es für ihn so aussehen, als hätten die beiden Kollegen die ganze Nacht durchgearbeitet, und nun ginge einer von ihnen zurück auf sein Zimmer, um noch einige Stunden wohlverdienten Schlaf zu genießen. Heute Morgen waren sie sich auf der Treppe begegnet, weshalb sie nun ausnahmsweise gemeinsam in den Frühstückssaal kamen. Daher hörten sie gleichzeitig den grellen Pfiff und wandten die Köpfe zu dem Fenstertisch, wo er herkam. Dort saß Sebastian. Er hob eine Hand zum Gruß. Torkel hörte, wie Ursula neben ihm seufzte, dann wich sie von seiner Seite und begann das Frühstücksbuffet zu studieren, wobei sie Sebastian geradezu demonstrativ den Rücken kehrte.
«Sei doch so nett und setz dich kurz zu mir. Ich habe dir Kaffee mitgebracht.» Sebastians Stimme dröhnte durch den gesamten Frühstücksraum. Die Gäste, die sich nach dem Pfiff noch nicht für sie interessiert hatten, taten es jetzt. Torkel ging entschlossen auf den Tisch zu.
«Was willst du?»
«Ich will wieder arbeiten. Mit euch. An diesem Mordfall.» Torkel sah Sebastian forschend an, um herauszufinden, ob das ein Scherz sein sollte. Als er keine Anzeichen dafür erkennen konnte, schüttelte er den Kopf.
«Das geht nicht.»
«Warum nicht? Weil Ursula das nicht will? Komm schon, gib mir zwei Minuten.» Torkel warf einen Blick zu Ursula hinüber, die ihnen noch immer den Rücken zuwandte. Dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich. Sebastian schob ihm den Kaffeebecher hin. Torkel sah kurz auf die Uhr und stützte seinen Kopf auf die Hände.
«Zwei Minuten.» Einige Sekunden war es still, Sebastian erwartete zunächst, dass Torkel etwas sagen würde. Ihn etwas fragen. Doch er tat es nicht.
«Ich möchte wieder arbeiten. Mit euch. An diesem Fall mit dem ermordeten Jungen. Was gibt es daran nicht zu verstehen?»
«
Warum
du wieder arbeiten möchtest. Mit uns. An diesem Fall mit dem ermordeten Jungen.»
Sebastian zuckte mit den Achseln und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
«Das hat persönliche Gründe. Mein Leben … läuft gerade nicht so rund. Mein Therapeut sagt, es wäre hilfreich für mich, wieder Routine hineinzubringen. Ich brauche Disziplin. Eine Aufgabe. Außerdem braucht ihr mich.»
«Ist das so?»
«Ja. Ihr seid doch völlig auf dem Holzweg.»
Das war Torkel schon gewohnt. Wie oft hatten er und seine Kollegen eine Theorie vorgelegt oder einen Tathergang konstruiert, nur um anschließend brutal von Sebastian verrissen zu werden. Trotzdem ertappte Torkel sich dabei, dass er sich darüber ärgerte, wie vermessen der ehemalige Kollege ihre gesamte Arbeit aburteilte. Eine Arbeit, in die er nicht einmal involviert war.
«Sind wir das?»
«Es war nicht der Nachbarjunge. Die Leiche wurde an einen entlegenen und ziemlich ausgeklügelten Ort gebracht. Die Attacke auf das Herz wirkt beinahe rituell.» Sebastian beugte sich vor und senkte seine Stimme, um einen dramatischen Effekt zu erzeugen. «Der Mörder ist viel raffinierter und vor allem viel reifer als ein jugendlicher Mobber, der sich nicht einmal dazu aufraffen kann, in die Schule zu gehen.»
Sebastian lehnte sich mit seinem Kaffeebecher zurück und begegnete Torkels Blick über dem Becherrand. Torkel schob den Stuhl zurück.
«Das wissen wir auch schon, deshalb lassen wir ihn heute frei. Und die Antwort auf deine Frage lautet noch immer nein. Danke für den Kaffee.»
Torkel stand auf und schob den Stuhl wieder zurück. Er sah, dass Ursula sich an einem Fensterplatz weiter hinten im Raum niedergelassen hatte und wollte gerade zu ihr gehen, als Sebastian seine Tasse absetzte und die Stimme hob.
«Erinnerst du dich noch daran, wie Monica dir untreu war, diese ganze Geschichte mit deiner Scheidung?»
Torkel blieb stehen und wandte sich Sebastian zu, der ihn gelassen ansah.
«Also mit deiner ersten Scheidung.»
Torkel schwieg und wartete auf die Fortsetzung, die garantiert kommen würde.
«Damals warst du wirklich am Boden zerstört. Oder?»
Torkel antwortete nicht und warf Sebastian einen Blick zu, der deutlich machte, dass er keine Lust hatte, darüber zu reden. Einen Blick, den Sebastian komplett ignorierte.
«Ich könnte wetten, dass du heute nicht Chef wärst, wenn in diesem Herbst nicht jemand für dich eingesprungen wäre. Nein verdammt, eigentlich sogar das ganze Jahr über.»
«Sebastian …»
«Was wäre deiner Meinung nach passiert, wenn niemand die Berichte rechtzeitig abgegeben hätte? Deine Fehler korrigiert? Den
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