Der Mann, der kein Mörder war
ist so, wie ich es sage.
Es macht mich ein wenig traurig zu hören, dass Sie schwanger sind. Obwohl es völlig gegen meine Überzeugung ist, habe ich das Gefühl, Ihnen diesen Rat geben zu müssen. Lassen Sie einen Abbruch vornehmen, wenn das noch möglich ist. Versuchen Sie, Sebastian zu vergessen. Er würde niemals die Verantwortung übernehmen, weder für Sie, noch für das Kind. Es schmerzt mich, Ihnen das schreiben zu müssen, und Sie wundern sich sicherlich, was ich für eine Mutter bin. Aber den meisten Menschen geht es ohne Sebastian in ihrem Leben besser. Ich hoffe dennoch, dass sich alles für Sie zum Besten wendet.
Sebastian las den Brief ein zweites Mal. Seine Mutter war dem Drehbuch ihrer Beziehung auf den Punkt genau gefolgt. Sogar nach ihrem Tod gelang es ihr, ihn zu verletzen. Er versuchte erneut, etwas Ruhe in seine Gedanken zu bringen. Sich auf die Fakten zu konzentrieren, nicht auf Gefühle. Das Ganze von außen zu betrachten. Professionell zu bleiben. Was wusste er? Vor dreißig Jahren, als er an der Universität in Stockholm arbeitete, hatte er eine Frau namens Anna Eriksson geschwängert. Vielleicht hatte sie abgetrieben, vielleicht auch nicht. Jedenfalls war sie irgendwann vor dreißig Jahren aus dem – er blickte auf Annas Adresse – Vasaloppsvägen 17 weggezogen. Er hatte mit ihr geschlafen. War sie eine seiner ehemaligen Studentinnen? Vermutlich. Er war mit mehreren von ihnen im Bett gewesen.
Der mittlerweile pensionierte Leiter seines Instituts hatte einen Namen, den man bei der Telefonauskunft finden konnte, Arthur Lindgren. Arthur hob nach drei Anrufen und beim fünfundzwanzigsten Klingeln ab. Er wohnte noch immer in der Surbrunnsgatan, und nachdem er etwas wacher war und begriffen hatte, wer ihn da morgens um halb sechs anrief, war er erstaunlicherweise sehr hilfsbereit. Er versprach, in den alten Papieren und Akten, die er noch bei sich zu Hause aufbewahrte, nach Anna Eriksson zu suchen. Sebastian dankte ihm. Arthur hatte stets zu den wenigen Menschen gehört, die Sebastian respektierte, und dieser Respekt beruhte auf Gegenseitigkeit. Er wusste, dass Arthur ihn sogar in Schutz genommen hatte, als die Universitätsleitung zum ersten Mal versucht hatte, ihn zu feuern. Am Ende war die Situation allerdings sogar für Arthur untragbar geworden. Sebastians Frauengeschichten waren nicht mehr nur kleine, diskrete Affären. Es kursierten mittlerweile so viele Gerüchte, dass es der Leitung schließlich beim dritten Mal gelang, ihn zu suspendieren. Daraufhin war er in die USA gezogen und hatte an der University of North Carolina angefangen. Er hatte eingesehen, dass seine Tage gezählt waren, und sich um ein Fullbright-Stipendium beworben.
Sebastian versuchte, den zeitlichen Verlauf zu skizzieren. Er notierte das Datum des ersten Briefs, den 9. Dezember 1979. Der zweite Brief war auf den 18. Dezember datiert. Er rechnete neun Monate zurück und kam auf den März 1979.
Er war Anfang November des Jahres in Chapel Hill in North Carolina angekommen. Also musste es in der Zeit zwischen März und Oktober geschehen sein, noch acht Monate standen zur Auswahl. Vermutlich hatte sie die Schwangerschaft jedoch kurz vor dem ersten Brief bemerkt. Also waren die Monate September und Oktober am wahrscheinlichsten. Sebastian versuchte so viele Erinnerungen wie möglich an seine sexuellen Abenteuer im Herbst 1979 hervorzukramen. Das war gar nicht so einfach, denn in genau dieser Zeit an der Universität war seine Sexsucht am stärksten ausgeprägt gewesen. Teils, weil der Stress durch die ständigen Ermittlungen vonseiten des Instituts gegen ihn sein Bedürfnis nach Bestätigung verstärkt hatten. Teils, weil er die Rolle des Verführers nach einigen Jahren des Experimentierens bis zur Perfektion beherrschte. Die Plumpheit, die Furcht und die Unbeholfenheit der Anfangszeit waren verflogen. Jetzt genoss er die Früchte seines Könnens und hatte nach seiner anfänglichen Nervosität alle Hemmungen fallenlassen. Rückblickend hatte er über sein Verhalten zu dieser Zeit gestaunt. Als zu Beginn der achtziger Jahre die Angst vor HIV und Aids um sich griff, wurde ihm klar, wie gefährlich seine Abhängigkeit eigentlich war. Er begann, nach Wegen zu suchen, um ihr widerstehen zu können, und zog dabei viel Kraft aus seiner Forschung über Serienmörder in den USA . Er erinnerte sich noch genau an den Augenblick, als er in Quantico saß, dem Ausbildungscenter des FBI , das mit der University of South
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