Der Mann, der nicht geboren wurde
Wahrheiten verraten zu
bekommen.
»Lass dir von Trenc eine Waffe geben«, antwortete Riban nur, während
er die magische Linie mit Schraffuren verzierte. »Die Zeit, in der du
überflüssig wirst, ist noch lange nicht gekommen.«
Trenc Weraly händigte Rodraeg ein breites Kurzschwert aus, das die
Insignien der Garde eines längst verstorbenen Königs trug. »Ihr wollt wirklich
nur den Dolch behalten?«, fragte ihn Rodraeg.
»Ja. Mein Arm ist nicht mehr so flink wie früher. Der Dolch
behindert mich nicht und wird seinen Zweck erfüllen. In dieser Hinsicht bin ich
sehr gut ausgebildet worden.«
Rodraeg gingen alle möglichen Entgegnungen durch den Kopf. Wenn Ihr wirklich so sicher seid, weshalb habt Ihr mir dann Euer
Testament in die Hände gedrückt? Warum schlieÃen alle hier mit ihrem Leben ab
und erwarten von mir, dabeizustehen und einfach weiterzumachen? Aber er
sagte nichts. Auf eine schwer zu beschreibende Weise fühlte er sich nicht
berechtigt, diese beiden deutlich älteren und erfahreneren Männer dauernd
infrage zu stellen.
»So«, ächzte Riban schlieÃlich und erhob sich. Er lächelte, und da
er selten lächelte, sah sein Gesicht jetzt merkwürdig verfremdet aus. »Nun noch
einmal zu uns beiden, Rodraeg. Dies ist alles, was ich dir
vermachen kann.« Er förderte aus seinen Jackentaschen ein Geldsäckchen und
einen gläsernen Gegenstand zutage. »Dies sind noch vierzig Taler, mehr besitze
ich nicht mehr. Benutze das Geld, um dein nächstes Ziel zu erreichen. Und nimm
das an dich.« Er hielt Rodraeg das Glasgefäà entgegen. Es war eine verkorkte
Phiole, bauchig, gut in den Handteller passend und augenscheinlich vollkommen
leer. Ribans Lächeln vertiefte sich noch. »Du siehst richtig. Das Gefäà ist
leer. Seine einzige Ungewöhnlichkeit besteht darin, dass es ziemlich schwer
kaputt zu bekommen ist. Es könnte sein, dass du eines Tages eine Verwendung
dafür findest und dann froh bist, so etwas zur Hand zu haben.«
Rodraeg nahm das Geld und die Phiole. »Ein weiteres Eurer Rätsel?«
»Deine Lösungen meiner Rätsel übertrafen nun schon mehrmals mein
Vorstellungsvermögen. Lass es uns einfach wieder so machen. Jetzt verbirg dich
dort hinter diesen Bäumen und beobachte, was geschieht. Wenn alles gut ausgeht,
wirst du nichts weiter tun müssen, als das Ende dreier verschrobener Gestalten
zu bezeugen. Vielleicht aber wirst du noch eingreifen müssen, wenn Trencs
Kräfte doch nicht reichen. Ich überlasse das dir. Du bist â im Gegensatz zu mir â erwachsen und kannst so etwas selbst beurteilen.«
Riban verzichtete auf einen Händedruck. Eine solche Geste hätte auch
kaum zu ihm gepasst. Rodraeg schlich sich, die Glasphiole noch immer in der
Hand, aus der Nähe des Zirkels wie ein abgewiesener Gast. Er versteckte sich
hinter der bezeichneten, dicht stehenden Baumgruppe und versuchte, das Zittern
seiner Hände mithilfe des Kurzschwertgriffes und des leeren GlasgefäÃes unter
Kontrolle zu bekommen.
Man schrieb den 29. Blättermond. Die Sonne stand noch niedrig und
herbstlich stumpf am blaugrauen Himmel.
Es war der vorletzte Tag vor dem Nebelmond.
Das Mammut war gefallen, pünktlich, wie
prophezeit.
Die Ereignisse jedoch hielten nun inne und wandten sich ihrem
Höhepunkt zu.
Riban Leribin setzte sich im
Schneidersitz in den Mittelpunkt des Zirkels. Die Hände hielt er neben dem
Körper in Waage, sodass beide Handflächen aufwärts zeigten, der Kopf war leicht
gesenkt.
Der Kreis war vollständig geschlossen,
wies keine Lücke auf.
Trenc Weraly legte sich alt und wackelig auf das Ende der magischen
Linie an der Peripherie des Kreises.
Rodraeg duckte sich tiefer und wartete. Seine Zähne begannen zu
klappern. Er wusste nicht, ob es Furcht war oder die beiÃende Kälte dieses
Morgens, die ihn durch den Umhang und das zerschlissene Kerkerhemd hindurch
anwehte.
Riban begann zu singen, mit hoher, klarer Knabenstimme. Die Worte,
die er sang, waren dunkel und fremdsprachig.
Weralys Körperhaltung spannte sich.
Ein Wind brachte die fast laublosen Bäume zum Knistern.
Ein Reiter preschte auf der StraÃe nach Uderun vorüber, konnte
jedoch aufgrund seines eigenen Hufgetrappels nichts von dem Gesang hören.
SchlieÃlich beendete Riban das Lied.
Mit geschlossenen Augen sprach er laut und deutlich: » DMDNGW â
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