Der Mann, der nicht geboren wurde
und
einbehalten müssen?
Es gab keine Möglichkeit, das absolut Richtige vom absolut Falschen
zu unterscheiden. Rodraeg konnte nur raten und tasten, blinder noch als
Estéron, in einem Nebel aus Niedertracht, der unenträtselbarer war als selbst
die Höhle des Alten Königs .
8
Nacht im Haus des Mammuts
In dieser Nacht schienen sich
Rodraegs Befürchtungen zu bewahrheiten, dass Tjarka als Einzige von ihnen
entkommen würde.
Bestar und Tjarka waren zur
Stadtgardegarnison gegangen, hatten sich dort der Hauptfrau Larza Durbas
vorgestellt, hatten den Kapitän der Greif sowie sogar noch einige Menschen aus dem Thostwalddörfchen
Anfest als Zeugen benannt für ihr Fernsein während des Beginns der
Nadelmordserie und hatten unbehelligt wieder gehen dürfen. AnschlieÃend hatte
Bestar Tjarka zum Würfelbecher begleitet, wo sich das Waldmädchen mit von Naenn
ausgehändigten zwanzig Talern Taschengeld einquartierte, woraufhin Bestar â ein
kleiner Fehler in den Berechnungen dieses Abends â alleine den kurzen Weg zum
Haus des Mammuts zurücklegen
musste. Niemand belästigte ihn, und auch er sorgte sich nicht besonders. Im
Vergleich zu den Folterungen in der Thostwaldgrube erschien ihm die Bedrohung
durch einen Nadelstichmörder geradezu lächerlich.
Rodraeg war noch lange aufgeblieben und hatte sich in seinem
Arbeitszimmer in die Lektüre von Eljazokads phantastischen und oftmals nur
schwer zu entziffernden Tagebüchern vertieft, als er ein Geräusch von der
Hintertür hörte. Stirnrunzelnd hielt er im Lesen inne. Normalerweise hätte er
nun abgewartet, ob sich das Geräusch wiederholte, aber da erst vor wenigen
Tagen ein Einbrecher im Haus gewesen war, wollte er keinen Fehler machen, indem
er einfach nur zu träge war. Es war ein Kratzen gewesen, wie damals, als Cajin
einmal einen Wolf an der Haustür gehört hatte.
Rodraeg nahm die Ãllampe vom Schreibtisch, stand auf und ging in das
angrenzende Versammlungszimmer. Nur von dort aus kam man auf den Flur, an dem
die Haustüren lagen, die beide zur Nacht abgeschlossen worden waren. Rodraeg
stand gerade mitten im schattendurchflimmerten Flur, als die Hinter- und die
Vordertür gleichzeitig mit knirschenden Geräuschen aufschwangen â und mehrere
Gestalten in den Flur wimmelten. Einer hielt eine Armbrust auf Rodraeg
angelegt, ein anderer kam langsam auf ihn zu, während mindestens zehn Männer
und Frauen in das Haus des Mammuts fluteten und in
sämtlichen vom Flur abgehenden Türen verschwanden, in das Bad, den Abort, den
Keller, Cajins Zimmer, die Küche, den Versammlungsraum und die Treppe hinauf.
Es waren Gardisten. Annähernd die Hälfte aller Gardisten Warchaims besetzten
lautlos und geordnet das Haus des Mammuts. Der, der
langsam auf Rodraeg zukam, war kein Geringerer als Stadtgardekommandant Gauden
Endreasis höchstpersönlich. Er bedeutete dem Armbrustschützen, die Waffe
abzusenken.
»Verhaltet Euch ruhig, und es wird Euch nichts geschehen. In ein,
zwei Stunden sind wir hier fertig, dann könnt Ihr, wenn Ihr nichts zu verbergen
habt, weiterschlafen oder weiterarbeiten oder was immer Ihr gerade getan habt.«
»Darf ich fragen ⦠womit wir es hier zu tun haben?«
»Das ist eine Hausdurchsuchung. Wir mussten die Schlösser knacken.
Falls ein Schaden entstanden sein sollte, wird die Stadt dafür aufkommen.«
»Was ist passiert? Ein weiterer Mord?«
Endreasis, der fast einen Kopf kleiner war als Rodraeg, sah ihn
lauernd an. Seine hängenden Augenlider hatten etwas aufreizend Lässiges. »Ja.
Meine Ãberwachungsmänner haben gesagt, dass Ihr die ganze Zeit im Haus wart.
Ihr seid also einmal mehr nicht direkt verdächtig. Aber es geht um das hier.«
Er hielt Rodraeg einen krakeligen Zettel vor die Nase. Darauf stand:
Dem Mammut dürstetâs nach grausamer Wahrhaftigkeit
Endreasis steckte den Zettel
wieder ein. »Die Tote hatte diesen Zettel in der Hand. Sie war die leitende
Ãbtissin des Bachmutempels. Ihr Name war Baacla. Schon mal gehört?«
»Leider muss ich wieder passen. Alle
drei Mordopfer stehen mit uns in keinerlei Zusammenhang.«
»In keinerlei Zusammenhang zumindest bis zum Augenblick ihres Todes.
Irgendetwas ist am Mammut dran, das mit dem Tod all
dieser Menschen in Zusammenhang steht. Ich möchte gerne wissen, was.«
»Ich verstehe.« Oben wurde es nun unruhig. Es entstand wohl
Weitere Kostenlose Bücher