Der Mann der nicht zu hängen war
hier ist an meiner Stelle gestorben!«
»Wie bitte? Was erzählen Sie da? Kennen Sie etwa den Mörder?«
»Nein, das heißt, ja, vielleicht. Ich weiß nicht, wer er ist, aber ich glaube, ich habe ihn gesehen. Er wollte zuerst mich umbringen.«
»Moment mal. Immer der Reihe nach. Beruhigen Sie sich wieder... Und jetzt erzählen Sie mir alles von vorne, o. k.?«
»Also, es war so: Vorhin, ich saß allein an einem Tisch, kam ein Mann zu mir mit einem vollen Maßkrug. Er lachte, war sehr freundlich und sagte: >Hier Junge, trink auf mein Wohl! Ich habe heute Geburtstag!<«
»Wie hat er ausgesehen?«
»Ach...! Ich weiß nicht so recht. Er war ganz anders als die Leute, die sonst hier sind. Er war sehr elegant. Er hat sehr fein ausgesehen. Er war kleiner als ich und... ja, er hatte schöne, graue Haare.«
»Wie alt ungefähr?«
»Genau 60! Als ich es ablehnte, mit ihm zu trinken, sagte er: >Komm doch Junge, mach mir die Freude! Ich feiere heute meinen Sechzigsten!< Das genau hat er gesagt.«
»Und warum haben Sie denn nicht mit ihm angestoßen? Sie sagen doch selber, daß er sehr freundlich war, oder?«
»Ja schon, nur eben ein bißchen zu freundlich! Mir gefiel es nicht, ich dachte, na ja, Sie wissen schon, was ich meine. Ich hab’ ihn zum Teufel geschickt mit seinem Bier! Und daraufhin ist er weitergegangen. Er lächelte. Ich fand’s komisch. Ich schaute ihm nach... war ziemlich verwirrt. Da habe ich gesehen, wie er diesen Mann hier, der jetzt tot ist, angesprochen hat.«
»Sie haben einfach zugesehen und nichts unternommen?«
»Ja. Ich konnte doch nicht wissen, daß er ein Mörder ist! Ich dachte, er sucht sich halt jemanden, mit dem er saufen kann. Das geht mich nichts an. Erst als der Mann zusammengebrochen ist, bin ich sofort hingelaufen, aber da war es zu spät.«
Kommissar Brenner denkt scharf nach. Der Fall ist für ihn nun schon etwas klarer. Er ist jedenfalls einen guten Schritt weiter gekommen. Denn nun weiß er, mit wem er es zu tun hat: mit einem Verrückten, einem »feinen Herrn«, der heute seinen 60. Geburtstag feiert und es sich an diesem seinem Ehrentag »leistet«, wahllos unschuldige Menschen mit Zyankali umzubringen. Als Tatort hat er das Oktoberfest ausgewählt. Was für eine teuflische Idee!
Eins ist allerdings klar: Die Zeit drängt! Also ruft Kommissar Brenner bei der Polizeizentrale an und fordert Verstärkung an: alle Polizisten von Karlstein und Umgebung. Die ganze Nacht lang, selbst noch, nachdem der letzte Besucher das Gelände verlassen hat, beobachtet die Polizei jeden einzelnen Winkel: die Bierzelte, die Stände, die Kioske, die Toiletten. Nichts! Das war eigentlich von vornherein klar. Aber man kann ja nie wissen, besonders, wenn ein Mörder eindeutig verrückt ist. Außerdem gehört so etwas nun mal zur Routinearbeit.
4. Oktober 1978, sieben Uhr morgens. Die ersten Arbeiter kommen auf das Gelände und beginnen mit dem Abbau. In Anbetracht der Ereignisse hat der Bürgermeister beschlossen, das Oktoberfest von Karlstein vorzeitig zu beenden. Kommissar Brenner sitzt in einem Zelt, das er zum Hauptquartier gewählt hat. Er sitzt schon seit Stunden da, vor seinem x-ten Kaffee, während seine Männer draußen herumschleichen. Er denkt nach. Und hat das Gefühl, daß dieser Fall ganz leicht zu lösen sein wird. Aber wie?
Ein Polizist reißt ihn aus seinen Gedanken: »Herr Kommissar, verzeihen Sie, wenn ich störe...«
»Wie bitte! Glauben Sie vielleicht, ich schlafe?«
»Herr Kommissar, wir haben jetzt die Betrunkenen in der Sanitätsbaracke aufgeweckt. Zwei davon sind tot. Zyankali.«
Ludwig Brenner wird kreidebleich. Nach dieser Horrornacht, mitten im erkalteten Gestank von Bier und Zigaretten, Steckerlfischen und Brathendln, wird ihm plötzlich speiübel.
»Und wo hat man diese zwei Männer gefunden?«
»Alle beide in der Nähe des Haupteingangs. Meiner Meinung nach wußte der Mörder nach seinen zwei >Erfolgen< ganz genau, daß es für ihn gefährlich werden könnte, noch länger zu bleiben. Aber auf dem Weg zum Ausgang, nun, da hat er es nicht lassen können, noch zweimal zuzuschlagen.«
»Ja. Wahrscheinlich haben Sie recht. So wird es wohl gewesen sein.«
Müde, deprimiert, angewidert steht der Kommissar auf. Und als er langsam schweren Schrittes durch das leere, stille Bierzelt geht, empfindet er auf einmal so etwas wie Mitleid für all diese saufenden, betrunkenen Männer, die ihn gestern noch so angeekelt hatten. Wie unschuldige Kinder, verwundbar und voller
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