Der Mann der nicht zu hängen war
schlug vor, doch ein Gnadengesuch einzureichen, aber er wollte es nicht unterschreiben. Jetzt ist er in seiner Todeszelle im Gefängnis von Saint-Quentin. Rastlos geht er auf und ab, hin und her wie ein Bär in seinem Käfig. Und er wartet auf den Tag, auf seine letzte Stunde.
Ezra Rittiman, der Wärter im Gang der Todeszellen, ist ein polnischer Immigrant. Zwischen Thomas Sharp und Phil Blakister, dem anderen Todeskandidaten, hat er seine Wahl getroffen: Der eine hat seine Frau umgebracht, weil er sie liebte. Das kann Ezra verstehen. Der andere hat mit einer Maschinenpistole auf mehrere Geldtransportbegleiter geschossen. Dafür hat Ezra nichts übrig. Und da er nun einmal die beiden Zellen bewachen muß, bleibt er des öfteren bei Thomas Sharp stehen:
»Wie geht es dir? Möchtest du vielleicht doch noch einmal mit deinem Anwalt sprechen? Das darfst du. Du weißt das, oder?«
»Ja, ich weiß, aber ich traue ihm nicht. Er kann mir sowieso nicht mehr helfen.«
»Oder soll ich den Kaplan rufen? Du bist doch katholisch. Vielleicht würde es dir gut tun, mit ihm zu reden?«
»Den Kaplan? Nein danke. Der kann mir auch nicht mehr helfen. Ich habe ganz andere Sorgen: Ich denke an meinen Sohn. Er ist erst drei Jahre alt. verstehst du? Drei Jahre! Und ich habe ihm die Mutter genommen. Und mich — wird man bald hinrichten. Was soll nur aus ihm werden?«
»Er ist noch viel zu klein, um zu verstehen. Außerdem ist er bei deiner Mutter ja gut aufgehoben. Sie hat doch versprochen, ihm nichts zu sagen, niemals! Mach dir also keine Sorgen um ihn. Und außerdem — er lebt dreitausend Meilen von hier entfernt. Dort wird er sicher nichts erfahren.«
»Aber ein Sohn braucht seinen Vater! Er wird aufwachsen und niemanden haben, der ihm Ratschläge geben kann, wenn nötig, niemanden, der ihn richtig erzieht, damit er nicht dieselben Fehler macht wie ich. Sicher, er wird es gut haben bei meiner Mutter, sie wird ihn zur Schule schicken, aber sie wird es nicht verstehen, ihn richtig zu erziehen — Sie hat es bei mir ja auch nicht gekonnt.«
»Sag mal, was willst du eigentlich? Du kannst ja doch nichts mehr machen. Mach dich also nicht verrückt damit!«
»Du hast gut reden! Hast du Kinder?«
»Ja, eine Tochter.«
»Dann mußt du mich doch verstehen können. Ich kann nicht einfach so — fortgehen und ihn seinem Schicksal überlassen! Ich möchte meinem Sohn weiterhelfen, auch wenn ich tot bin. Verstehst du? Irgendwie! Aber wie? Wenn ich nur wüßte, wie?«
Der Wärter begreift sehr wohl. Aber er weiß, daß es für die Verzweiflung des Verurteilten keinen Trost mehr geben kann. Keinen Ausweg. Es ist ein Jammer. Er kann Thomas Sharp leider auch nicht helfen.
Als der Wärter wieder an der anderen Todeszelle vorbeikommt, verhöhnt ihn der Gangster: »Na, du liest wohl eine stille Messe für deinen Liebling! Sag mal, Bulle, glaubst du, daß er vor mir drankommt?« Angewidert kehrt Ezra um. Es stimmt. Höchstwahrscheinlich wird Thomas Sharp vor dem anderen »drankommen« — hingerichtet —, aus dem einfachen Grund, weil er sich geweigert hat, das Gnadengesuch zu unterschreiben. Der andere hatte da keine Skrupel. Begnadigt wird er deswegen zwar bestimmt nicht, aber immerhin, er gewinnt dadurch einige Tage, vielleicht sogar einige Wochen.
Anders Thomas. Im Grunde genommen hat er sich längst selbst verurteilt. Und wenn er lautstark vor Gericht protestiert hat, dann nur deshalb, weil er versuchen wollte — die Wahrheit zu sagen. Zu erklären wie und wer er ist: ein leidenschaftlicher, bestimmt ungestümer und besitzergreifender Mann. Aber auch einer, für den die Liebe eine seltene, kostbare, ja heilige Sache ist. Hinter der schweren Tür seiner Zelle ruft Thomas Sharp plötzlich ganz aufgeregt: »Ezra! Bist du da? Ich habe die Idee! Ich brauche Briefpapier und Umschläge! Ich kann meinem Sohn helfen, aber nur dann, wenn auch du mir hilfst!«
»Briefpapier? Umschläge? Wozu? Also gut, wenn du meinst, ich werde Papier besorgen.«
»Ezra, ich brauche aber viel Papier, sehr viel. Ich habe genau nachgerechnet. Ich werde, ich muß 210 Briefe schreiben. Ich brauche also auch 210 Umschläge.«
»Was hast du vor? An alle Gouverneure und Abgeordneten schreiben?«
»Bitte Ezra, besorge es mir! Ich habe nur noch wenig Zeit, und was ich vorhabe, ist alles andere als einfach. Ich muß mir jeden einzelnen Brief genau überlegen, ganz, genau! Was meinst du, wieviel Zeit bleibt mir noch? Sag mir, wieviel? Du kennst dich doch aus mit —
Weitere Kostenlose Bücher