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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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kommen, und was er hört, klingt unglaublich, schrecklich. Jeanne, die kleine Jeanne ist in Paris; sie ruft aus Paris an, um ihm zu sagen, daß sie sich die Pulsader aufgeschnitten hat und auf den Tod wartet und daß sie ihm erklären will, warum sie es getan hat. Sie muß es jemandem erklären, und sie hat dabei an ihn gedacht... nun, weil Amerika eben sehr weit weg von Paris ist, weil die Leute dort auch noch nicht schlafen, und weil er nichts unternehmen kann aus dieser Entfernung. Er kann ihr nur zuhören. Und mehr will sie auch nicht.
    Zunächst denkt Claude an einen Scherz. An einen sehr dummen Scherz allerdings. Aber nicht lange. Sehr bald bekommt er es mit der Angst zu tun: diese monotone Stimme, die mit einer verzweifelten Gleichgültigkeit ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringt, macht ihm Angst.
    Dieser Anruf ist unglaublich — kurz vor Feierabend eines hektischen amerikanischen Arbeitstages. Doch er faßt sich schnell. Während Claude einige idiotische Fragen stottert wie: »Aber, warum machst du denn so was Dummes? Ist jemand bei dir?« usw… arbeitet sein Gehirn fieberhaft: Wenn er jetzt aufhängt, um jemanden zu alarmieren, ist die Tragödie nicht mehr abzuwenden. Außerdem, wen sollte er denn alarmieren? Claude könnte vielleicht versuchen, seine französischen Freunde anzurufen, aber es würde viel zu lange dauern, er hat die Nummern nicht im Kopf, und sie würden vielleicht auch nicht schnell genug begreifen, worum es geht. Sie alle kennen Jeanne nicht — und er weiß nicht einmal, wo sie wohnt.
    Dabei geht es sicherlich um Minuten. Er weiß ja nicht, wann genau sich Jeanne überhaupt die Pulsadern aufgeschnitten hat. Sie sagt nichts Genaues, weint zwischendurch und erzählt wirr und stockend aus ihrem Leben.
    Claude greift zum Hörer des Apparats auf dem Nachbarschreibtisch und wählt die erste Nummer, die ihm einfällt: die Nummer von Neal Henry, seinem Chef, der im 58. Stock residiert.
    »Kommen Sie sofort herunter! Ich hab ein schreckliches Problem! Beeilen Sie sich!«
    Der Chef — obschon sehr erstaunt über den Befehlston seines Angestellten — beeilt sich wirklich, und Claude, jetzt sehr aufgeregt, versucht, ihm die Lage zu schildern. Aber es ist äußerst schwierig, weiterhin ganz behutsam mit Jeanne zu sprechen — französisch — und gleichzeitig Neal Henry auf Englisch die Lage zu erklären — so, daß auch er begreift, daß es um Leben und Tod geht, dort in Paris! Claude nimmt ein Blatt Papier und kritzelt im Telegrammstil alle möglichen Informationen darauf, die vielleicht nützen können: »Sie heißt Jeanne V. — Französin — ruft aus Paris an — hat sich die Pulsader aufgeschnitten — ist ganz allein — was soll man tun? Helfen Sie mir!«
    Und Neal kritzelt zurück: »Fragen Sie nach ihrer Adresse. Die Polizei muß alarmiert werden!«
    In Paris ist es jetzt Viertel vor eins. Jeanne klingt immer abwesender. Und sie versteht auch nicht mehr genau, warum Claude so viel von ihr wissen will. Wo sie wohnt? Was spielt es für eine Rolle? Er kennt die Gegend nicht. Sie ist erst vor kurzem umgezogen. Es dauert unendliche fünf Minuten, bis Claude den Namen der Straße endlich erfährt und fünf weitere unendliche Minuten, bis Jeanne auch die Nummer des Hauses verrät. Endlich, der erste Schritt! Claude notiert die Adresse, schiebt sie Neal über den Schreibtisch. Der ruft sofort die New Yorker Polizei an. Er will, er muß das Unmögliche versuchen: einem wahrscheinlich überlasteten Polizisten in New York erklären, daß sich eine junge Frau in Paris gerade das Leben nimmt und daß man sofort Hilfe schicken soll. Bestimmt wird man ihn bei der Polizeizentrale für verrückt halten, aber im Augenblick weiß er nicht, was er sonst machen könnte.
    Alles hängt jetzt von dem Auffassungsvermögen des diensthabenden Polizisten ab. Hoffentlich legt er nicht gleich auf. Der Polizist heißt Gordon. Und er halt Neal Henry keineswegs für verrückt, ganz im Gegenteil: Er hört aufmerksam zu und begreift sofort. Er notiert die Pariser Adresse und gibt noch einen Rat: Claude soll auf keinen Fall aufhören, mit Jeanne zu sprechen, er soll pausenlos reden, reden und reden, ganz egal worüber. Jeanne darf nicht bewußtlos werden, also reden. Und er, Gordon, nimmt alles Weitere in die Hand. Neal soll an der Leitung bleiben, sozusagen als Mittelsmann zwischen New York und Paris.
    Sieben Uhr abends in New York — ein Uhr in Paris. Das Leben von Jeanne hängt an einer Telefonverbindung, die um den

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