Der Mann, der niemals lebte
furchtbar?«
Ferris nickte. Ja, es war furchtbar.
»Als sie dann im Heiligen Land ankarrten, erwartete sie eine böse Überraschung«, fuhr Alice fort. »Die Muslime wehrten sich, und bald saßen die Kreuzfahrer in der Falle und mussten fern ihrer Heimat einen richtigen Krieg führen. Immer mehr von ihnen kamen ins Heilige Land, bis sie schließlich so vernichtend geschlagen wurden, dass nur wenige sich überhaupt wieder nach Hause schleppen konnten. Siehst du da vielleicht irgendwelche Parallelen zu unserer heutigen Zeit?«
»Nein«, sagte Ferris grinsend. »Ich sehe keinerlei Parallelen.«
»Willst du mich etwa wütend machen?«, fragte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm ins Ohr zu flüstern: »Es wird höchste Zeit, dass du etwas aus der Geschichte lernst.«
Ferris ließ den Blick über den Horizont schweifen. In dieser Landschaft hatte so gut wie jede Epoche der Menschheitsgeschichte ihre Spuren hinterlassen. Viele Kilometer weit im Süden lag versteckt in einem abgelegenen Tal die unvergleichliche Stadt Petra, die man dort zur Römerzeit aus den Felsen gehauen hatte, und ein paar Autostunden weiter nördlich fand man die Ruinen von Gerasa, Pella und Um Qais, die zu den von den Römern »Dekapolis« genannten zehn nahöstlichen Handelsstädten gehört hatten. Viele antike Baudenkmäler in dieser Landschaft waren noch so gut erhalten, dass es schon wieder unheimlich war. Es gab weite, von nackten ionischen Säulen umstandene Plätze, kolonnadengesäumte Straßen mit ihren ursprünglichen Pflastersteinen und fast vollständig erhaltene römische Amphitheater, deren steinerne Ränge noch immer auf leere Bühnen blickten, als hätte ein scharfer Wind Zuschauer und Schauspieler erst vor wenigen Minuten vertrieben.
»Wo sind sie nur alle hin?«, sagte Ferris mehr zu sich selbst, während er weiter hinaus auf diese geschichtsträchtige Landschaft schaute. »Die Griechen, die Römer, die Kreuzfahrer?«
»Sie sind tot«, sagte Alice. »Behauptet man zumindest.«
Ferris lächelte und nahm sie in die Arme. »Ich wollte eigentlich wissen, warum sie so gänzlich verschwunden sind. Nimm zum Beispiel die Römer, die ihre Städte für die Ewigkeit gebaut haben. Ihre Häuser und Straßen sind noch da, aber sie selbst nicht mehr, und dabei hatten sie die totale Herrschaft hier. Was haben sie bloß falsch gemacht?«
Alice sah ihn an. »Möchtest du wirklich darüber reden, Roger? Ich glaube nämlich nicht, dass meine Ansichten dir gefallen werden.«
»Doch, ich möchte wissen, wie du darüber denkst.«
»Also gut. Die Römer sind verschwunden, weil sie Fehler gemacht haben. Sie waren schlechte Herrscher. Zwischen Hadrian und Commodus liegen nur sechzig Jahre, aber das reichte schon für den Niedergang eines Weltreichs. So schnell kann das gehen. Also sieh dich vor.« Sie knuffte ihn liebevoll in die Seite, aber Ferris war noch nicht bereit aufzugeben.
»Ganz so zwangsläufig war das aber nicht«, sagte er. »Wären die Römer nicht so verweichlicht, hätten die Barbaren sie nie besiegen können.« Er reckte das Kinn vor. Verstand sie denn nicht, was er meinte? Eine gute Kampfmoral war doch das beste Mittel gegen den Verfall der Sitten.
»Du hast ja recht, mein Hinkebeinchen. Die Römer sind schwach geworden und haben ihr Weltreich verloren. Aber das war erst sehr viel später. Was sie wirklich auf den absteigenden Ast gebracht hat, war eine schlechte Führung. Der Niedergang fing schon an, als Rom noch eine militärische Supermacht war. Die Prätorianergarde hatte viel zu viel Macht, nicht zu wenig, und es waren doch die politischen Institutionen, die als erste Schwäche gezeigt haben. Erst viel später kamen noch Korruption und Verfall hinzu. Rom ist von innen heraus verfault, glaub mir. Ich habe viel darüber gelesen.«
Ferris sah ihr ins Gesicht. Er verstand sie immer noch nicht, und sie schüttelte so heftig den Kopf über ihn, dass ihr Pferdeschwanz von einer Seite zur anderen flog. Was hatte sie nur an sich, das Ferris so in seinen Bann zog? War es die Tatsache, dass sie ihn neckte und verspottete und unablässig gegen seine Überzeugungen anredete? Dass er ihr offenbar so wichtig war, dass sie ihm immer wieder beweisen wollte, wie sehr er sich auf dem Holzweg befand? Oder lag es daran, dass sie ganz andere Dinge wusste als er und dass sich hinter diesem schönen Gesicht mit seinen verführerischen dunkelbraunen Augen und den blonden Haaren ein hellwacher Geist mit ganz eigenen Erfahrungen
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