Der Mann, der niemals lebte
Am festgesetzten Tag verließ Ferris zusammen mit einem Kollegen in einem Wagen mit abgedunkelten Fensterscheiben das Botschaftsgebäude. Sie fuhren so lange, bis Ferris sicher war, nicht überwacht zu werden. Als der Wagen im Schritttempo um eine einsame Ecke am Jebel Amman bog, öffnete Ferris die Tür und ließ sich vom Beifahrersitz auf den Gehweg gleiten. Kaum hatte er den Sitz verlassen, wurde dort automatisch eine Gummipuppe aufgeblasen, die seinen Platz einnahm – ein vielfach erprobter Trick aus den Zeiten des Kalten Krieges. Hinter den dunklen Scheiben würde es keinem Beobachter auffallen, dass Ferris nicht mehr im Wagen saß.
In einer Seitenstraße wartete ein weiterer Wagen auf ihn und brachte ihn in die Tiefgarage eines großen Wohnhauses, wo die CIA eine ihrer zahllosen sicheren Adressen in Amman unterhielt. Ferris fuhr mit dem Fahrstuhl aus dem Untergeschoss nach oben. In der Wohnung angekommen, legte er die Verkleidung an, die er schon für die beiden ersten Treffen mit dem jordanischen Architekten verwendet hatte: Perücke, Schnurrbart, schwarze Brille, aufgepolsterter Bauch. Als er in den Spiegel schaute, erkannte er sich selbst kaum wieder.
Sie waren in einer Suite im Le Royal verabredet, einem großen Hotel in der Stadtmitte, das einem irakischen Milliardär gehörte. Sadiki sah genau so ernst und fromm aus wie immer. Er hatte die letzten Angebotsunterlagen mitgebracht, neue Pläne und Zeichnungen und Vorschläge für weitere potenzielle Subunternehmer. Dank der guten Beziehungen der CIA zur Unibank waren bereits erste Zahlungen für den Auftrag bei al-Fajr eingegangen. Wenn es dann in ein paar Monaten an der Zeit war, das Ganze abzublasen, würde die Bank dem Architekturbüro ein hübsches Ausfallhonorar für das abgebrochene Projekt zahlen – auch das hatten sie bereits vereinbart.
Ferris beobachtete Sadiki genau, um zu sehen, ob er vielleicht Anzeichen von Stress oder Misstrauen gegenüber seinem Kontaktmann »Brad Scanion« zeigte. Es war ja möglich, dass er durch eine Bemerkung in der Moschee, den besorgten Anruf eines Familienmitglieds oder einen Tipp von Hanis Leuten irgendwie den Braten gerochen hatte. Doch offensichtlich war das nicht der Fall. Sadiki verhielt sich genauso gelassen – und genauso nichtssagend – wie immer. Sie verbrachten ein paar Stunden damit, die Unterlagen gemeinsam durchzugehen, aßen in der Suite zu Mittag und setzten ihr Gespräch dabei fort.
Mitten in der Besprechung entschuldigte sich Sadiki und zog sich zum Beten zurück, wie er es schon in Beirut getan hatte. Und auch diesmal wirkte er danach erfrischt und gereinigt. Dieser Aspekt des Islam rang Ferris aufrichtige Bewunderung ab, auch wenn er ihn nicht begriff. Auf die Gläubigen wirkten die täglichen Gebete wie ein Bad in einer klaren Quelle. Mit den Ritualen des Niederkniens, des sich Verbeugens und Betens schien etwas Befreiendes, Reinigendes einherzugehen. In einem anderen Leben hätte sich Ferris dieser Religion vielleicht bereitwillig angeschlossen. Doch für ihn und seine Kollegen war es heute und für alle Zeit der Tag nach dem 11. September 2001.
Königsstraße, Jordanien
Als Alice ihm einen Wochenendausflug vorschlug, willigte Ferris begeistert ein. Sie konnten schließlich nicht immer nur in Amman hocken und auf die nächste Autobombe warten, und außerdem brauchte er ein wenig Erholung. Wenn er von der Botschaft nach Hause kam, stand er so unter Strom, dass er mindestens eine, manchmal auch zwei Stunden und mehrere Drinks benötigte, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen. Alice und er trafen sich inzwischen fast jeden Abend, mal in ihrer, mal in seiner Wohnung. Sie fragte ihn jetzt seltener nach seiner Arbeit – wenn man die Antworten nicht hören will, hört man rasch auf, Fragen zu stellen.
Alice schlug vor, auf der alten Königsstraße, auf der zweitausend Jahre lang jüdische Reisende, christliche Kreuzfahrer und muslimische Pilger die Wadis und kargen Bergkämme des südlichen Jordaniens überquert hatten, nach Süden zu fahren. Der Sicherheitsbeauftragte der Botschaft hätte ihnen von dieser Route, die durch viele Beduinensiedlungen im aufsässigen Süden führte, hundertprozentig abgeraten, deshalb fragte Ferris ihn gar nicht erst nach seiner Meinung. Als örtlicher CIA- Chef konnte er schließlich tun, was er wollte. Und so mietete er für den Ausflug auch einen kleinen Mitsubishi, anstatt einen der gepanzerten Geländewagen der Botschaft zu nehmen.
»Niedliches Auto«,
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