Der Mann, der niemals lebte
nie in den Mund tat? Wenn sie ihm auch die Hosentaschen durchsuchten, würden sie die Schiene finden, und was dann? Während er das noch dachte, hörte er plötzlich, wie sich die Eingangstür des Cafés öffnete. Vom Boden aus konnte er nicht sehen, wer hereinkam, aber er hörte eine Frauenstimme, die laut und energisch Arabisch redete. Es dauerte einen Augenblick, bis er erkannte, dass es Alice war.
»Lasst ihn los! Sofort! Meine Freunde bei den Ikhwan Ihsan werden sehr zornig sein, wenn sie erfahren, wie respektlos ihr einen Gast behandelt.«
»Die Ikhwan Ihsan?«, sagte der Mann mit dem Prügel in der Hand. »Y’Allah!«
Sie ließen Ferris los und traten zurück. Ferris rappelte sich auf und stellte sich neben Alice, die die Männer mit stahlhartem, unnachgiebigem Blick fixierte. Sie wurde nicht lauter und drohte ihnen auch nicht, doch ihre Körperhaltung, ihr gut artikuliertes Arabisch und vor allem ihre Furchtlosigkeit nötigten den jungen Männern offenbar großen Respekt ab.
»Danke«, sagte sie auf Arabisch. »Möge Gott euch gute Gesundheit schenken.« Die Männer antworteten ihr mit ritualisierten Friedenswünschen.
Dann trat ein junger Mann in einem langen, weißen Gewand in den Raum und blieb neben Alice stehen. Die anderen Männer blickten ihn ehrfürchtig an und wichen noch ein paar Schritte weiter zurück. Das musste Hidschazi sein, der Mann, den Alice besuchen wollte, dachte Ferris. Hidschazi reichte ihm die Hand zum Gruß und wandte sich dann an die Angreifer.
»Brüder«, sagte er, »ihr habt Schande über die Stadt Mutah und die Gefährten des Propheten gebracht, die hier ihr Blut vergossen haben. Dieser Gast ist mit Miss Alice Melville hierhergekommen, einer großen Freundin aller Araber. So, wie ihr ihn behandelt habt, seid ihr schlimmer als die jahil, die Unwissenden. Ich verlange von euch, dass ihr euch auf der Stelle bei ihm entschuldigt und ihn für euer unzivilisiertes und ignorantes Verhalten um Vergebung bittet.« Die Männer murmelten ihre Entschuldigungen und gaben Ferris der Reihe nach die Hand. Dass sie dabei ehrlich zerknirscht wirkten, hatte wohl weniger damit zu tun, dass sie bereuten, Ferris niedergeschlagen zu haben, als mit der Tatsache, dass sie damit Hidschazis Zorn auf sich gezogen hatten. Ferris blickte Alice überrascht an.
Er selbst wollte die Stadt am liebsten so schnell wie möglich verlassen, doch Hidschazi bestand darauf, dass sie noch blieben und mit ihm Tee tranken. Und Ferris willigte ein, weil es extrem unhöflich gewesen wäre, der Stadt nicht die Gelegenheit zu geben, ihr Bild wieder ins rechte Licht zu rücken. Ein Arzt wurde gerufen, um sich Ferris’ Hinterkopf anzusehen, und dann brachten die Angreifer ihm diverse Geschenke, hauptsächlich einfache Handarbeiten, Datteln und Süßigkeiten. Der Mann, der Ferris niedergeschlagen hatte, bot ihm sogar Geld an, weil man unter Beduinen Streitigkeiten zumeist auf diese Weise beilegte. Als die Entschuldigungszeremonie schließlich ein Ende gefunden hatte und die beiden Ausländer wieder fahren durften, war es fast schon dunkel.
Nachdem sie auf dem sicheren Königsweg einige Kilometer zurückgelegt hatten, fuhr Ferris rechts ran und drehte sich zu Alice um, die er in den vergangenen Stunden von einer gänzlich anderen Seite kennengelernt hatte. Sosehr er auch ihren unabhängigen, freien Geist liebte, die eisenharte, willensstarke Frau, als die sie sich an diesem Nachmittag gezeigt hatte, rang ihm echte Bewunderung ab.
»Vermutlich hast du mir heute das Leben gerettet«, sagte er.
»Kann sein. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass sie dir etwas getan hätten. Was macht dein Kopf?«
»Schmerzen.«
»Es tut mir ja so leid …« Sie beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Du hattest völlig recht. Wir hätten nicht nach Mutah fahren dürfen. Die Stadt ist zu klein, und die Menschen dort sind zu aufgebracht. Das ist alles meine Schuld. Kannst du mir verzeihen?«
Ferris nickte. Er sah Alice jetzt von einer ganz anderen Seite, und er glaubte, in ihr einen jener seltenen Menschen gefunden zu haben, die mit Leib und Seele für ihre Werte eintraten.
»Dein Freund Hidschazi hat mir gefallen«, sagte Ferris. »Woher kennst du ihn?«
»Wie ich schon sagte, seine Gruppe hat uns sehr geholfen. Ihre Mitglieder kommen aus ganz Jordanien und haben die unterschiedlichsten Berufe. Sie sind sehr religiös und sehr friedlich und könnten keiner Fliege etwas zuleide tun. Ein paar von ihnen helfen
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