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Der Mann, der niemals lebte

Titel: Der Mann, der niemals lebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ignatius David
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sagte Alice, als er sie damit abholte, und als sie die jordanischen Nummernschilder sah, fügte sie hinzu: »Machst du jetzt einen auf einheimisch?«
    Sie legte Landkarte und Reiseführer auf den Schoß und lotste Ferris in südlicher Richtung aus der Stadt auf eine schmale Straße, die am Steilufer des Toten Meeres in vielen Serpentinen nach unten führte. Unter ihnen breitete sich die schimmernde Oberfläche des Salzmeeres aus und flimmerte und flirrte im Sonnenlicht wie eine Fata Morgana. Während er den Wagen langsam auf den tiefsten Punkt der Erde zusteuerte, spürte Ferris, wie sich seine Ohren mit einem leisen Knacken an den veränderten Luftdruck anpassten. Auf der anderen Seite des Toten Meeres lagen das Westjordanland sowie, kaum sichtbar auf dem Kamm eines weit entfernten Höhenzuges, die Häuser von Jerusalem. Alice dirigierte ihn zu einem Hotel am Ufer des Toten Meeres, das zu einer Schweizer Hotelkette gehörte und dessen Manager sie kannte.
    »Hättest du vielleicht Lust zu schwimmen?«, fragte sie. »Obwohl man von Schwimmen im Toten Meer eigentlich gar nicht reden kann.« Im Hotel stellte sie Ferris den Manager vor, einen gepflegten Palästinenser, dem die Schweizer in Lausanne einen europäischen Feinschliff verpasst hatten. Er gab ihnen Handtücher und den Schlüssel für eine Umkleidekabine am Strand, und ein paar Minuten später zog Alice Ferris hinter sich her ins schimmernde Wasser des Toten Meeres.
    Auf dem Rücken liegend ließ sie sich von der Küste wegtreiben, und der Badeanzug umschloss ihren Körper so eng, dass sich ihre aufgerichteten Brustwarzen unter dem dünnen Stoff abzeichneten.
    Ferris ließ sich langsam ins Wasser gleiten. Seine Haut brannte, als hätte er sich mit Alkohol abgerieben. Ein schwefliger Geruch lag über dem Meer, der Alice aber nicht im Geringsten zu stören schien. Mit einem Ausdruck reinen Vergnügens im Gesicht lag sie still und zufrieden da und blickte hinauf zur Novembersonne. Ferris versuchte, sich ebenfalls zu entspannen, doch es gelang ihm nicht. Er musste immer wieder an die Autobomben denken und an den Mann, in dessen Auftrag sie gelegt worden waren.
    Sie duschten sich das Salz vom Körper und zogen sich an; kurze Zeit später waren sie wieder am oberen Rand des Steilufers und fuhren weiter auf dem Königsweg. Alice wollte Ferris die Kreuzfahrerburg in Kerak zeigen – eine Festung, die der brutale Renaud de Chatillon im 12. Jahrhundert zu seinem Hauptquartier gemacht hatte. Durch ein steinernes Tor betraten sie die Burg mit ihren Wällen und Türmen, und Alice erzählte Ferris, wie Renaud armen Muslimen, die auf dem Königsweg nach Mekka pilgerten, ihr letztes Geld geraubt hatte. Danach ließ er seine Opfer von den Wällen der Burg werfen, schützte aber ihre Köpfe mit hölzernen Kisten, sodass sie beim Aufprall nicht bewusstlos wurden und die Schmerzen ihrer gebrochenen Glieder in vollem Umfang spüren konnten. An Grausamkeiten wie diese dachten die Muslime bis heute, wenn sie die Amerikaner »Kreuzfahrer« nannten.
    Von den Burgmauern schauten Alice und Ferris nach Westen zu den Wadis hinüber, durch die der Regen aus den Bergen abfloss. Diese von der Natur und nicht vom Menschen geschaffene Landschaft hatte sich in den vergangenen tausend Jahren nur unwesentlich verändert. In der Ferne, wo der Himmel jetzt, mitten am Vormittag, blau wie ein Saphir schimmerte, lag Jerusalem. Alice legte den Kopf schief und drehte sich zu Ferris um. Ein paar Strähnen ihrer langen Haare hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und flatterten im Wind.
    »Weißt du eigentlich, dass die Kreuzzüge mit einer großen Lüge begonnen haben?«, fragte sie.
    Ferris war klar, dass er gleich einen von Alices Vorträgen zu hören bekommen würde, aber das machte ihm inzwischen nichts mehr aus. Sie gehörten zu ihr wie ihr blondes, in der Sonne golden glänzendes Haar.
    »Wirklich?«, fragte er, wie es sich für einen guten Stichwortgeber gehörte.
    »Ja. Papst Clemens hat zwar nicht behauptet, die Muslime hätten Massenvernichtungswaffen, aber sehr viel besser waren seine Lügen auch nicht. Er ließ vom Vatikan aus verkünden, die Ungläubigen würden harmlose christliche Pilger im Heiligen Land ausrauben und foltern. Das war alles reine Erfindung, aber im Mittelalter waren die Menschen nun einmal dumm und abergläubisch und glaubten dem Papst jedes Wort. Und so zogen die christlichen Ritter los, um die Muslime zu töten. Für eine Lüge zogen sie in den Krieg. Ist das nicht

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