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Der Mann, der niemals lebte

Titel: Der Mann, der niemals lebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ignatius David
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verbarg? In diesem Augenblick erschien sie ihm unendlich wertvoll, und es war ihm fast egal, ob die heutigen Barbaren irgendwann einmal jeden Wolkenkratzer in den USA zerstören würden, solange sie nur Alice nichts antaten. »Ich liebe dich«, sagte er.
    »Na also, jetzt gibst du dich ja doch geschlagen.« Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn fort von den rauen Steinen der Burgmauer.
     
    Unterhalb der Kreuzfahrerburg suchten sie sich ein paar Felsen, setzten sich in die Spätnovembersonne, tranken Wein und aßen Baguette, Käse, Parmaschinken und Melone, die Alice als Picknick mitgenommen hatte. Ferris schnitt mit einem großen Taschenmesser die Honigmelone und belegte die Scheiben mit Schinken, während Alice ihnen Wein nachschenkte, einen roten Lefraya aus dem ein paar hundert Kilometer entfernten libanesischen Bekaa-Tal. Alles schmeckte hervorragend und zerging förmlich auf der Zunge. Als sie mit dem Essen fertig waren, blieben sie noch ein wenig auf den Steinen liegen und genossen die Sonnenstrahlen.
     
    Alice hatte noch einen weiteren Programmpunkt geplant. Sie wollte Ferris die unweit gelegene Stadt Mutah zeigen, wo im siebten Jahrhundert eine der ersten Schlachten zwischen den muslimischen Armeen aus Arabien und den Legionen des Byzantinischen Reichs stattgefunden hatte. Jetzt war Mutah eine Universitätsstadt und, genau wie das im Norden gelegene Zarqa, ein Zentrum des islamistischen Fundamentalismus.
    Ferris verzog das Gesicht, als Alice ihm diesen Abstecher vorschlug, denn Mutah galt nicht gerade als ein Ort, an dem man sich als Ausländer sicher fühlen konnte. Einer der Agenten seines Vorgängers Francis Alderson hatte einmal versucht, dort ein Mitglied der Muslimbruderschaft festzunehmen, und war von den Freunden des verärgerten Mannes kurzzeitig entfuhrt worden. Man munkelte auch, dass die Ikhwan Ihsan – die erleuchtete Bruderschaft – hier ihren Hauptsitz hatte.
    »Lass uns lieber nach Hause fahren«, sagte Ferris. »Ich bin müde. Ich würde gern ein Nickerchen machen und anschließend mit dir schlafen.«
    »Aber du musst dir Mutah ansehen. Es ist einfach zauberhaft. Und ganz in der Nähe, in al-Mazar, sind die Gräber von Mohammeds Ziehsohn Zaid bin Haritha und dessen Stellvertreter Dschaffar bin Abu Talib. Dieser Ort hat für Muslime eine große Bedeutung. Wie willst du sie jemals verstehen, Roger, wenn du ihre Geschichte nicht kennst? Das wäre ja genauso, als wenn man in Boston wäre und sich die Faneuil Hall nicht ansehen würde.«
    »Ich war nie in der Faneuil Hall. Lass uns heimfahren und uns lieben.«
    Alice zog eine Schnute. »Wenn du mich jetzt zwingst, heimzufahren, kannst du das mit dem Sex vergessen. Und zwar nicht nur heute. Außerdem habe ich einen Brief dabei, den ich einem der religiösen Lehrer in Mutah geben möchte. Den Gefallen bin ich ihm schuldig, denn er hat ehrenamtlich viel für unsere Kinder in den Flüchtlingslagern getan.«
    Am Ton ihrer Stimme erkannte Ferris, dass sie nicht nachgeben würde. Sie gingen zurück zu dem Mitsubishi und fuhren ein paar Kilometer die schlaglochübersäte Straße entlang, bis sie nach Mutah kamen. Alice sang »Big Yellow Taxi« und traf dabei fast jeden Ton. Offensichtlich freute sie sich darauf, Ferris noch mehr von ihrer Welt zeigen zu können, und Ferris gab sich Mühe, seine Sorge vor ihr zu verbergen. Doch je mehr sie sich den Vororten von Mutah näherten, desto misstrauischer begann er sich umzusehen. Hier gab es keine Soldaten der jordanischen Spezialeinheiten, nur ein paar harmlose örtliche Polizisten, die man im Ernstfall vergessen konnte. Alle Frauen auf der Straße trugen Kopftücher, einige waren auch voll verschleiert. Die Männer hatten allesamt undurchdringliche Beduinengesichter und machten mit ihren langen Bärten den Eindruck, als gehörten sie eher ins Mittelalter als in die heutige Zeit.
    Ferris unterbrach Alice mitten im Singen. »Irgendwie fühle ich mich hier nicht besonders wohl.«
    »Es ist doch alles in Ordnung.«
    »Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, als wären wir in dieser Stadt nicht sonderlich willkommen.«
    »Also, ich bin willkommen«, antwortete Alice. »Ich habe einen Brief für meinen guten Freund Hidschazi dabei. Er gehört zu dieser religiösen Gruppierung hier, den Ikhwan Ihsan oder wie die heißen. Er hat mir viel geholfen. Aber wenn du dich hier wirklich nicht wohl fühlst, liefere ich schnell den Brief ab, und dann fahren wir wieder. Was hältst du davon?« Sie waren inzwischen im

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