Der Mann, der niemals lebte
Stadtzentrum angelangt, in unmittelbarer Nähe der Universität.
»Du meine Güte, Alice, warum hast du denn nicht gleich gesagt, dass der Mann zu den Ikhwan Ihsan gehört? Die sind gefährlich.«
»Du weißt nicht, wovon du redest, Roger. Warum sollten die denn gefährlich sein? Die Ikhwan Ihsan sind nicht böse, ganz im Gegenteil, sie schicken uns immer wieder Lehrer und professionelle Helfer für unsere Projekte. Ich arbeite gut mit ihnen zusammen, genau wie mit einer ganzen Reihe anderer islamischer Organisationen, die dir vermutlich auch nicht gefallen würden. So, und du bleibst jetzt brav im Auto sitzen und wartest auf mich. Ich bin gleich wieder da.« Ferris wollte abermals protestieren, aber Alice war bereits ausgestiegen und ging zielstrebig auf die Universität zu.
Ferris schaltete den Motor ab und stieg ebenfalls aus, um in einem nahe gelegenen Café eine Tasse Kaffee zu trinken. Erst dann bemerkte er, dass sechs Männer, die rechts von ihm vor der Moschee saßen, alle gleichzeitig zu ihm herübersahen. Sie hatten harte, entschlossene Gesichter und wirkten so aufeinander eingespielt, als würden sie schon lange gemeinsam beten und den Koran studieren. Im Irak hatte Ferris Dutzende solcher Grüppchen gesehen, die sich jeden Tag auf Plätzen und Straßen trafen, und er hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese sechs ihm Schwierigkeiten bereiten würden.
»Alice! Komm zurück! Wir müssen sofort von hier weg«, rief er, doch Alice, die schon ein gutes Stück entfernt war, konnte oder wollte ihn nicht hören. Dafür hatte er mit seinem Rufen die Männer vor der Moschee nun erst recht auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt wussten sie, dass er Amerikaner war.
Mit gesenktem Blick ging Ferris weiter auf das Café zu und hoffte, dort Schutz vor den Blicken der Männer zu finden. Vor dem Café saß ein alter Mann, der eine Wasserpfeife rauchte. Als er Ferris sah, wandte er sich ab und blickte zur Seite. Er machte ein verdrießliches Gesicht wie alle Menschen in dieser Stadt, und Ferris fiel plötzlich ein, dass es hier schlimme Unruhen gegeben hatte, als der König die staatlichen Zuschüsse für Grundnahrungsmittel wie beispielsweise Brot gestrichen hatte. Hier in Mutah waren die Unzufriedenen zu Hause. Ein Kellner kam, und Ferris bestellte sich einen mittelsüßen türkischen Kaffee. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die jungen Männer vor der Moschee ein letztes Mal die Köpfe zusammensteckten und dann auseinandergingen. Wo wollten sie hin? Und wo war Alice?
Ferris musste auf die Toilette. Hätte er bloß vorhin beim Picknick weniger Rotwein getrunken. Aber jetzt war es zu spät für solche Gedanken. Er stand auf, betrat das dunkle Café und fragte nach der Toilette. Der Mann hinter der Theke gab ihm keine Antwort, sondern machte nur ein verwirrtes und verängstigtes Gesicht, während er an Ferris vorbei in die Dunkelheit starrte. Ferris witterte Gefahr und wollte das Café wieder verlassen, als ihn ein fester Schlag am Hinterkopf traf. Ihm wurde schwarz vor Augen, und in diese Schwärze hinein explodierten die weißen Blitze des Schmerzes, bis er auf dem Boden des Cafés zusammenbrach.
Als Ferris kurz darauf die Augen wieder öffnete, beugten sich ein paar Männer über ihn und durchsuchten seine Jackentaschen. Zwei von ihnen hielten ihn an Händen und Füßen fest, während zwei weitere auf Arabisch miteinander redeten. Wussten sie, wer er war? Waren sie ihm vielleicht schon von Amman aus gefolgt?
»Bitte, ich bin ein Freund«, sagte Ferris auf Englisch. Arabisch wagte er nicht zu sprechen, um gar nicht erst für einen Geheimagenten gehalten zu werden.
Sie fanden seine Brieftasche und sahen sich seinen jordanischen Personalausweis an, aus dem hervorging, dass er bei der amerikanischen Botschaft arbeitete. Dieser Umstand bereitete den Männern große Freude: Da war ihnen doch tatsächlich ein wirklich großer Fisch ins Netz gegangen. Einer von ihnen trat Ferris mit dem Fuß in die Seite.
»Was willst du hier in Mutah? Rechtschaffene Muslime ausspionieren?«
»Nein«, erwiderte Ferris. »Ich bin Diplomat, das ist alles. Ich wollte mir Kerak anschauen, aber jetzt will ich nur noch zurück nach Amman.« Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte. In der Botschaft wusste niemand, wo er war. Wenn man ihn jetzt entführte, würde es viele Stunden dauern, bis er überhaupt ver- misst wurde. In seiner Hosentasche spürte er den Behälter mit der Giftschiene. Wieso hatte er sie überhaupt dabei, wenn er sie doch
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