Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Zahlreiche Straßen und Gassen zwischen diesen Stapeln bildeten ein dichtes Netz um die Sägemühle in der Mitte, wie eine kleine Stadt aus Holzwürfeln.
Endlose Holzwürfel.
Während Tom das menschenleere Gelände beobachtete, wurden seine Lider plötzlich schwer. So aufwühlend die Entschlüsselung von Pollys Geheimtext und die Entdeckung in Sids Schublade auch gewesen war, so sehr drückte ihn nun die Müdigkeit nieder. Würde er jetzt schlafen können? Hier? Wenn er sich hinlegen würde? Er wusste es nicht, aber er wusste, dass er jetzt nicht schlafen durfte. Tom zwickte sich in den Oberschenkel und schlug sich mit der Hand ins Gesicht, bis ihm der Kiefer wehtat.
Seit er Cooper vor wenigen Minuten verlassen hatte, war seine Stimmung gedrückt. Cooper hatte nichts Neues über Hattie erfahren, er hatte ihm aber gesagt, dass Huck auf dem Wege der Besserung war. Das Fieber war fast weg, die Entzündung der Wunde war abgeklungen, und Huck war die meiste Zeit bei klarem Verstand. Man hatte den Prozess auf übermorgen angesetzt.
Übermorgen.
Tom hatte nicht mehr viel Zeit.
Cooper machte sich große Sorgen um seine Schwester, Tom hatte es ihm angesehen. Der Doktor hatte ihn gefragt, ob er glaube, dass Hattie noch am Leben war. Tom konnte es ihm nicht sagen, und er wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. »Beten Sie darum«, hatte er gesagt, weil ihm nichts Besseres einfiel, und Cooper hatte nur schwach genickt. Um rasch das Thema zu wechseln, hatte Tom ihm den rätselhaften Pflanzenstängel in die Hand gedrückt und ihn gebeten, herauszufinden, was das war. Tom sagte, es könnte helfen, Hattie zu finden, wenn er auch nicht genau wisse, wie.
Cooper hatte wieder schweigend genickt und ihm dann etwas widerstrebend das Fläschchen ausgehändigt, um das Tom ihn gebeten hatte. Daraufhin war der Doktor in den schäbigen Anbau der Kneipe gegangen, wo seine Schwester vor ihm gewohnt hatte, und hatte tatsächlich angefangen zu beten.
Beten. Vielleicht half es ja.
Dass seine Tante Polly mit Hattie zusammen gebetet haben sollte, kam Tom immer noch merkwürdig vor. Sally Austin hatte das behauptet, und mit Sally Austin würde er ohnehin morgen sprechen. Er wollte sie vor dem Unterricht an der Schule abfangen, vorausgesetzt, er würde diese Nacht überleben.
Tom merkte auf, als ein kräftiger, hochgewachsener Mann das Tor der Sägemühle verriegelte. Das musste der Vorarbeiter sein, von dem Jim gesprochen hatte. Unter dem Tor verschwanden die Gleise für die Loren, mit denen die Baumstämme hineintransportiert wurden. Dann trat der Vorarbeiter in das Licht der Laterne über der Tür zum Büro, steckte die Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Ein Mann in einer abgewetzten Denimjacke trat aus dem Dunkel einer Gasse aus Bretterstapeln und blickte über die Schulter, bevor er zum Büro ging. Er überragte den Vorarbeiter um einen Kopf.
Einen kahl geschorenen Kopf mit einem rötlichen Bart.
Tom hielt den Atem an. Jim hatte sich nicht getäuscht.
Es war tatsächlich Dale.
Er trug ein Gewehr lässig über der Schulter und gab dem Vorarbeiter die Hand. Der Vorarbeiter schüttelte sie und überreichte Dale einen kleinen Beutel. Sie sprachen miteinander, aber Tom konnte nicht hören, was sie sagten. Die Männer waren zu weit weg.
Dann zog der Vorarbeiter etwas aus der Jackentasche, es sah aus wie ein Geldschein, so genau konnte Tom es nicht erkennen. Dale bekam den Schein, und der Vorarbeiter verließ das Gelände. Dale nahm sein Gewehr und ging vor der Mühle auf und ab. Als er sich vergewissert hatte, dass der Vorarbeiter verschwunden war, entleerte er seine Blase in eine Pfütze und setzte sich dann auf einen flachen Stapel frisch gesägter Bretter vor dem Büro. Er stellte das Gewehr neben sich ab, öffnete die Tüte und nahm etwas heraus, auf dem er dann herumkaute. Falter umschwirrten die Lampe über dem Büro, in deren rötlichem Schein Dale offenbar sein Abendessen verschlang. Er war allein.
Tom wusste, dass es jetzt so weit war.
Jim hatte sich für ihn umgehört und von Caleb, einem der Arbeiter der Mühle, erfahren, dass sich ein großer Kerl im Sägewerk herumtrieb, tagsüber in einem entlegenen Winkel der Bretterstraßen schlief und sich immer versteckt hielt, wenn die Arbeiter in seine Nähe kamen. Als Caleb Floyd, den Vorarbeiter, darauf angesprochen hatte, hatte der Caleb angeschnauzt, er solle sich lieber um seinen eigenen Kram kümmern und bei der Arbeit nicht rumglotzen. Caleb hatte von
Weitere Kostenlose Bücher