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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Engelmacherin war, und die Damen, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, waren offenbar peinlich darauf bedacht gewesen, dass es auch niemand erfuhr. Und dafür hatten sie bezahlt. Aber was hatte das mit ihrer Ermordung zu tun? Hatte es überhaupt was damit zu tun?
    Tom saß im Regen, starrte auf den Friedhof der ungeborenen Kinder und fand keine Antwort auf diese Frage. Er würde mit Huck sprechen, sobald dieser sich etwas erholt hatte. Vorhin, auf dem Boot, war Huck in sich zusammengesunken und hatte immer wieder gesagt: »Es tut mir leid.« Dann war er plötzlich auf den Boden des Bootes gesackt und verstummt. Sein Hemd war am Bauch ganz von Blut getränkt.
    Das Boot war auf eine Sandbank aufgelaufen, fünfundzwanzig Yards vor der Insel. Tom hatte Huck an Land geschleppt und dann das Boot zwischen ein paar umgefallenen, im Wasser liegenden Bäumen am Ufer versteckt und mit Zweigen abgedeckt. Es hatte zu nieseln begonnen, und Tom brachte Huck zu der Höhle, eigentlich mehr ein überhängender Fels, der sich unweit des Lagers aus ihrer Kindheit mitten auf der Insel befand. Er hatte ein Feuer gemacht und Hucks Hemd aufgeknöpft. Als er den blutgetränkten Verband entfernte, bekam er ein flaues Gefühl im Magen beim Anblick der klaffenden Wunde. Er riss einen Ärmel von seinem eigenen Hemd ab, um die Wunde notdürftig zu verbinden.
    Huck war kaum bei Besinnung gewesen, aber Tom schüttelte ihn, schlug ihn mit der flachen Hand auf die Wange, und als Huck zu sich gekommen war, hatte er gefragt: »Was ist hier los? Was ist auf der Insel?«
    Huck hatte ihn mit glasigen Augen angestarrt, dann matt die Hand gehoben und an Tom vorbei in die Bäume gedeutet, wo ein Trampelpfad mehr zu erahnen als zu sehen war. Daraufhin hatte er die Augen wieder geschlossen und war augenblicklich in einen tiefen Schlaf gesunken.
    Tom war dem Pfad gefolgt. Die Insel war drei Meilen lang, eine Viertelmeile breit, und ein knapp zweihundert Yards breiter Kanal trennte sie vom dicht bewaldeten unbewohnten Illinois-Ufer. Nach kurzem Fußmarsch durch das Unterholz war er auf die Lichtung gestoßen und verstört vom Anblick der kleinen Gräber auf die Knie gesunken.
    Die Männer haben keine Ahnung, was eine Frau alles tun kann, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
    Er fühlte sich kraftlos, ausgelaugt, schwach. Wann hatte er zum letzten Mal geschlafen? Tom wusste es nicht. Dass er Dales Sandwich gegessen hatte, war eine Ewigkeit her. Auch Huck würde etwas zu essen und zu trinken brauchen, wenn er aufwachte.
    Wenn er aufwachte.
    Lange konnten sie hier nicht bleiben. Joe Harper kannte diesen Ort; vor bald zwei Jahrzehnten war er mit ihnen auf der Insel gewesen. Es würde keinen Tag dauern, bis er auf Jackson Island nach ihnen suchen würde.
    Tom schloss die Augen und spürte, wie ihm die Regentropfen über das Gesicht rannen. Warum war er nur hierhergekommen? Warum war er nicht in Washington geblieben? Seit dem verhängnisvollen Karfreitag im Ford’s Theatre war sein Leben ein einziges Hetzen, ein Weglaufen vor der Frage: Was fange ich jetzt mit mir an?
    Was, wenn er jetzt einfach zu Crittenden ging und dessen Angebot annahm? Den Mord an Polly auf sich beruhen ließ? Was, wenn er St. Petersburg, Huck und alle Bewohner einfach ihrem Schicksal überließ und sich wieder um sein eigenes Leben kümmerte?
    Alle Bewohner.
    Und Becky? Konnte er sie auch einfach ihrem Schicksal überlassen? Sie wieder zurücklassen? Mit Sid, der ein Schulmädchen gevögelt und auch noch die Stirn hatte, sich als Opfer darzustellen?
    Tom atmete tief ein. Nein. Das ging nicht.
    Er stand auf und wandte sich zu dem Trampelpfad hin, der ihn zurück zu der kleinen Höhle bringen würde, als plötzlich eine durchnässte graue Gestalt vor ihm stand.
    ~~~
    »Huck!« Tom erstarrte, doch als Huck mit wutverzerrtem Gesicht auf ihn zustürmte, wich er zurück. Huck sah aus wie ein Toter. Seine schulterlangen Haare klebten an der schmutzigen Wildlederjacke. Er hatte einen mächtigen Knüppel in der Hand, hob ihn über den Kopf und rannte damit auf Tom zu.
    Toms Nackenhaare stellten sich auf. »Huck, nein!«
    Er wollte losrennen, doch er blieb an einer Wurzel hängen und stolperte. Er fiel zwischen den Gräberreihen zu Boden auf die Schulter, und dann war Huck über ihm. Er schwang den Knüppel und ließ ihn niedersausen.
    Schützend riss Tom die Arme hoch.
    Aber Huck traf nicht ihn. Sein Knüppel zerschmetterte eines der kleinen Kreuze. Mit dem Fuß trat er einen der Flusssteine um, hob

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