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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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willst du hin, Tom?« Furcht schwang in seiner Stimme mit.
    Tom wandte sich zu ihm und wies mit dem Zeigefinger nach vorn. »Jackson Island. Vielleicht ist unser altes Lager noch dort, was meinst du, Huck?«
    Er lächelte matt, doch Huck sah ihn ausdruckslos an. »Nein. Nicht Jackson Island, Tom. D-da sollten wir … das solltest du nicht!«
    Tom schüttelte verwirrt den Kopf. Was war los mit Huck? Angst blitzte in den Augen seines Freundes auf. »Warum nicht, Huck? Es hat schon einmal funktioniert. Alle haben uns für tot gehalten, als wir ein paar Tage verschwunden waren. Vielleicht funktioniert es noch einmal.«
    Huck schüttelte in stummen Entsetzen den Kopf, dann begann seine Unterlippe zu zittern. »Nein! Das ist nicht gut! Bitte nicht, Tom!«
    »Warum nicht, zur Hölle? Warum nicht Jackson Island? Was ist mit der Insel, Huck?«
    ~~~
    Es regnete in Strömen.
    Dicke Tropfen schlugen auf die Farne und auf die riesigen Hickoryblätter, rannen hinunter und tränkten den Boden. Es war kalt geworden. Wie aus dem Nichts hatte sich Nebel über den Fluss und die Inseln gelegt. Aus dem Wald drang das Rascheln und Zirpen von Insekten zu Tom, das Kreischen von Ratten, Waschbären und anderem Getier, das vor den sintflutartigen Regenfällen Schutz suchte. Er spürte die Nässe seiner Kleider kaum, er fühlte sich wie betäubt und unfähig, überhaupt etwas zu empfinden. Etwas zu fühlen außer einer großen Leere.
    Die Kreuze.
    Er kauerte am Rande einer kleinen Lichtung auf der Insel. Seit einer Stunde, seit zwei? Er konnte es nicht sagen. Tom konnte nur immerzu auf das Dutzend kleiner Kreuze und die aufgestellten Findlinge starren, die zwischen braun glänzenden Schlammpfützen in drei säuberlichen Reihen aus der Erde ragten, manche bereits schief, andere erst vor Kurzem aufgestellt, wie es schien.
    In die großen, glatt geschliffenen Steine vom Flussufer hatte Huck Zahlen geritzt, Daten aus den vergangenen acht Jahren. Die Kreuze waren aus Schwemmholz und Schnur gemacht, und Huck hatte schöne Kieselsteine, bunte Scherben und gelegentlich auch Blumen auf den großen Steinen abgelegt, die die Tiere der Insel davon abhalten sollten, in den darunterliegenden Gräbern zu wühlen.
    Die Grabstellen waren klein. Fast winzig.
    Sie wollte es plötzlich nicht mehr.
    Der Regen mischte sich mit den Tränen auf Toms Wangen, und ihm wurde klar, dass er über das falsche Bild weinte, das er von Polly gehabt hatte. Die alte Polly verblasste, und eine neue, ganz andere Frau trat an ihre Stelle. Eine noch stärkere Frau, geheimnisvoll, die für sich selbst sorgte und bereit war, dafür mehr zu tun, als Decken zu nähen und ein kleines Gärtchen zu bewirtschaften.
    Die Männer haben keine Ahnung, was eine Frau alles tun kann, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
    Das hatte sie einmal zu Becky gesagt. Und sie hatte recht behalten. Tom hatte von allem keine Ahnung gehabt, bis das Gespräch mit Sally ihn auf eine Spur geführt hatte, die er nicht wahrhaben wollte. Aber angesichts des geheimen Friedhofs war jeder Zweifel ausgeschlossen. Alles passte, alles fügte sich zusammen. Die Gesundheitszeitschriften in Pollys Haus. Die Kräuter in ihrem Garten, vermutlich Heilpflanzen. Die verschlüsselte Rechnung, auf der nur Namen von Frauen standen. Das Geld in der Seifenschachtel.
    Sallys Verhältnis mit Sid, das plötzlich beendet war.
    Ihre Lügen.
    Sie wollte es plötzlich nicht mehr.
    Es.
    Und Huck, der ihm im Schlachthof nicht die Wahrheit hatte sagen wollen, sondern sich lieber selbst in den Bauch geschossen hatte. Huck, der mit einem blutigen Sack bei seiner Tante gewesen war in der Nacht, als sie starb. Mit einem blutigen Sack. Einem Sack, der dazu diente, etwas Unaussprechliches wegzubringen. Um etwas zu der Insel zu bringen und es dort zu bestatten – aus irgendwelchen fragwürdigen religiösen Gründen oder aus schlechtem Gewissen oder warum auch immer.
    Tom wusste, dass es Ärzte und Quacksalber gab, die den Huren und anderen Frauen in Not für einen unverschämten Preis die ungewollten Kinder wegmachten, obwohl das gegen das Gesetz verstieß. Und auch wenn die Frauen dabei ihre Gesundheit aufs Spiel setzten. Alles war ihnen lieber, als ein Kind zu bekommen und mit der Schande zu leben. Aber solche Quacksalber gab es in St. Petersburg nicht. Polly hatte diesen Mangel für die Frauen von St. Petersburg behoben. Sie war ein ehrbares Mitglied der Gemeinde gewesen. Geachtet, geschätzt. Niemand hätte gedacht, dass sie eine

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