Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
den Knüppel wieder, drehte sich und schlug ein weiteres Kreuz um.
Tom schnappte nach Luft. Er war wie versteinert, bis ihm klar wurde, dass Hucks Angriff nicht ihm gegolten hatte. »Huck! Lass es sein!«
»Nein!« Huck schrie auf vor Zorn und wütete weiter. Immer wieder hob er den Knüppel und zertrümmerte damit Kreuze, stieß Steine um und verwüstete den Friedhof mit einer Wut und einer Kraft, die vom schieren Wahn befeuert zu sein schien.
»Hör auf, Hucky!« Tom sprang auf, gab acht, dass ihn die weiten Schwünge des Knüppels nicht trafen, und schlang dann von hinten die Arme um seinen Freund und hielt ihn fest.
»Lass mich! Lass mich los!« Huck schrie und bäumte sich auf, er hob Tom von den Füßen, versuchte, ihn abzuschütteln. Doch Tom klammerte sich fest, bis Huck schließlich erschöpft stehen blieb, und heftig atmend den Knüppel fallen ließ.
Erst jetzt lockerte Tom seinen Griff. Huck sank in sich zusammen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich wollte das nicht, Tom! Ich wollte das alles nicht!« Erstickt kam seine Stimme zwischen den Händen hervor.
Tom keuchte vor Anstrengung. Er legte Huck die Hand auf die Schulter. »Verdammt, Huck. Erzähl mir endlich, was passiert ist.«
~~~
Das kleine Feuer knisterte freundlich und warf einen behaglichen gelben Schein auf die Felswände. Es hatte aufgehört zu regnen, und es war dunkel geworden, Glühwürmchen schwebten wie grüne Funken durch den Wald auf der Insel.
Tom hatte ein paar frische Zweige mit vielen Blättern abgebrochen und vor die Höhle gelegt, damit der Schein des Feuers nicht durch die Bäume und über den Fluss bis zur Stadt drang. Nackt bis auf ihre Long Johns saßen er und Huck unter dem Felsvorsprung, pickten die gebratenen Schildkröteneier von den flachen Steinen um ihre Feuerstelle und gaben acht, dass sie sich dabei nicht die Finger verbrannten.
Tom hatte die Eier im Ufersand ausgegraben. Das war nicht schwer, nicht einmal in der Dämmerung, denn die Schildkröten bevölkerten das ganze Ufer. Tom hatte mit der Hand zwei, drei Löcher in den Sand gegraben und war auf vierzig bis fünfzig der walnussgroßen mattweißen Eier gestoßen.
Sie kauten stumm, tranken gelegentlich einen Schluck Wasser aus den Bechern, die sie sich aus Lindenblättern zusammengedreht hatten, während ihre an Ästen beim Feuer aufgehängten Kleider trockneten. Schließlich wischte sich Huck mit dem Handrücken über den Mund, blinzelte in die Flammen und durchbrach die Stille zwischen ihnen. »Ich hab sie erwischt. Vor Jahren, du warst schon eine Weile weg. Sie war immer freundlich zu mir. Ich konnte immer zu Tante Polly gehen, wenn es mir schlecht ging oder wenn ich zu besoffen war, um etwas im Wald zu fangen, das ich verkaufen konnte. Es war Abend, und ich klopf so an die Tür, aber niemand kommt, um aufzumachen. Und dann hör ich so ’n Stöhnen, wie wenn jemand Schmerzen hat oder wie wenn zwei es treiben, und ich mach mir Sorgen um Polly, zück mein Messer und schleich ums Haus rum.
Die Fensterläden sind zu, aber am Hintereingang gibt’s ’nen Spalt zwischen Türblatt und Rahmen, und ich lins so durch, und da seh ich sie. Beim Hokus, Tom! Ich fall fast in Ohnmacht, wie ich seh’, wie auf dem Esstisch deiner Tante ’ne Frau liegt, Röcke hochgerafft, und Polly fummelt da was bei ihr unten rum. Ich dacht schon … na ja, ist ja auch egal, was ich gedacht hab, jedenfalls seh ich dann ’ne Menge Blut, und Polly hat einen Haufen komische lange Löffel, und sie zieht so ein dickes Hölzchen unten aus der Frau raus, und ich hab, Himmel noch eins, keinen blassen Schimmer, was da passiert.«
Tom starrte Huck mit offenem Mund an. »Ein Hölzchen? So einen Stängel? So eins … warte!« Er griff über sich, klopfte die Taschen seines Jacketts ab und holte den Pflanzenstängel heraus, den er seit fünf Tagen mit sich herumtrug. »So einen hier?«
Huck nahm den vom Regen wieder aufgequollenen Stängel, betrachtete ihn erstaunt und nickte. »Ja, kann sein. Der hatte auch so’n Bändel.« Huck tippte auf den Bindfaden am einen Ende des Pflanzenstängels. Er sah zu Tom. »Wo hast du den her?«
Tom winkte ab. »Bei Polly gefunden. Egal, erzähl weiter.«
Huck fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich … ich bin erschrocken, a-als ich das Blut gesehen hab, mach ’nen Schritt zurück, stoß gegen ’nen Eimer oder was, und das Ding hat gescheppert, und dann hat Polly die Tür aufgerissen und hat mich finster angeschaut. Aber ich hab
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