Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
schräg durch die Scheiben hereinflutete. Sie wandte ihm den Rücken zu, stützte die Hände auf den Tisch, atmete durch. »Freut mich für die schwarzen Männer.«
Tom schwieg. Dann umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel. »Und Siddy? Was sagt er dazu, dass du dich nicht so benimmst wie eine ehrbare Bürgerin von St. Petersburg?«
Becky fuhr herum und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Augen glänzten. Sie lächelte. »Oh, er versteht das. Sidney ist nicht so wie die anderen, er ist so … so …«
»Verständnisvoll?«, schlug Tom vor, aber der spöttische Unterton in seiner Stimme entging Becky nicht.
Ihr Lächeln erstarb. »Was willst du von mir, Tom? Du hast mich hier vor zehn Jahren sitzen lassen, und jetzt kommst du zu mir, um auf deinem Halbbruder – meinem Verlobten – rumzuhacken?«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin zu dir gekommen, weil du mich hierher geschleppt hast. Und eigentlich bin ich gekommen, um nach allem, was in Washington passiert ist, bei Siddys Hochzeit dabei zu sein. Ich wusste nicht, dass er dich heiratet. Ich wär wahrscheinlich nicht gekommen, wenn ich es gewusst hätte. Und ich werd euch nicht lange zur Last fallen. Ich helfe Sid ein paar Tage, dann bin ich wieder weg.«
»Du hilfst ihm?«
»Wegen Tante Polly. Sid soll das Haus bekommen. Und das Geld, falls es welches gibt. Ich will nichts davon. Irgendein Notar wird das bestätigen müssen.«
Beckys Züge, eben noch wütend und angespannt, wurden weich. Die vollen Lippen bekamen einen traurigen Ausdruck. »Es … tut mir leid, Tom. Ich mochte sie, das weißt du. Als wir noch jünger waren, du und ich, und … du weißt schon, so was wie ein Paar, da hat sie mir ihr Leid mit dir geklagt und ich ihr meins. Wir waren so etwas wie Freundinnen. Sie hat nie an mir gezweifelt. Als ich ihr von der Zeitung erzählt habe, hat sie das verstanden und gesagt: ›Die Männer haben keine Ahnung, was eine Frau alles tun kann, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.‹ Es tut mir so leid.« Ihre Augen schimmerten feucht.
Tom schluckte. Wenn sie weinen würde, würde er auch weinen müssen, das wusste er.
Doch Becky wandte sich ab und ging zu einem hohen Regal mit schmalen Fächern. Sie zog eine postkartengroße Glasscheibe zwischen Dutzenden anderen hervor, kam zu Tom zurück und gab sie ihm. »Hier.«
Tom griff nach der Glasscheibe und betrachtete sie neugierig. Er sah schwarze Verfärbungen darauf, als wäre die Scheibe schmutzig.
Doch dann zog Becky das Glas plötzlich zurück. »Ich weiß ja gar nicht, ob du das überhaupt sehen willst. Tut mir leid, ich …«
»Was? Ob ich was sehen will, Becky?«
Becky verzog den Mund. »Ich heiße Rebecca!«
»Ja. Dann eben Rebecca. Was will ich sehen? Was ist das da in deiner Hand? Eine Fotografie?«
Becky nickte. »Von ihr. Tot. Auf dem Boden ihres Hauses in der Hooper Street.«
Toms Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Du hast sie fotografiert?«
Becky zuckte mit den Schultern. »Ja. Ich bin … ich wäre ihre Schwiegertochter geworden. Aber ich bin auch der St. Petersburg Chronicle . Ich habe darüber berichtet.«
Als sie sah, dass Tom die Stirn in Falten legte, zuckte Becky erneut mit den Schultern. »Die Plage der streunenden Hunde, die St. Petersburg in den letzten Monaten heimgesucht hat, scheint ausgestanden zu sein, aber nun vermisst leider Mr Harbinson seinen Hund. Faszinierend, nicht wahr? Über so atemberaubende Dinge berichte ich normalerweise, Tom. Der Mord an Polly ist die größte Geschichte hier seit Kriegsende und seit dem Untergang der Sultana auf dem Mississippi vor drei Monaten! Wenn der Sheriff Huck Finn fängt, wird es einen Prozess geben, und meine Zeitung wird darüber berichten. Bis dahin ist der Kupferstecher in Palmyra mit meiner Druckplatte fertig, und ich kann das Bild drucken. Er wird die Fotografie hier mit einem Huck Finn im Hintergrund ergänzen, der sie gerade umgebracht hat.«
»Also steht es für dich fest?«
»Was?«
»Dass Huck Finn der Mörder ist?«
Sie sah überrascht auf. »Wer zweifelt denn daran?«
»Ich. Gib mir das Bild, bitte.«
Er streckte die Hand aus, und Becky legte die Glasscheibe zögernd hinein. Tom zuckte zusammen. Der Anblick eines Negativbildes war immer noch ungewohnt, fast verstörend für ihn. Vor allem, wenn die eigene tote Tante darauf abgebildet war. Er hielt die Glasscheibe ans Fenster und kniff die Augen zusammen. Polly lag in einer Blutlache auf dem Dielenboden, den Kopf zur Seite gedreht. Im
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