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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Hintergrund war der Schrank mit Toms Kerben zu erkennen. Tom erschrak, als er sah, wie alt seine Tante geworden war. Die Negativplatte zeigte ihr Haar pechschwarz. Es musste also schlohweiß gewesen sein. Und am Boden schimmerten weiße Tropfen und weiße Lachen. Das war das Blut.
    Pollys Finger schienen im Tode verkrampft zu sein, wie in die Dielen gekrallt, so als hätte sie versucht, ihrem Mörder kriechend zu entkommen. Oder kroch sie auf den Schrank zu, um sich zu verstecken? Die Brille lag zerbrochen auf dem Boden neben ihr. Das Haar war blutverschmiert, die tödliche Wunde im Hinterkopf deutlich zu erkennen.
    Ein Loch im Kopf. Wie bei Lincoln.
    Dieser Mann darf nicht entkommen.
    Oh nein, Sir. Das wird er nicht.
    Bittere Galle stieg ihm die Kehle hoch, und Tom schluckte. Oder war es Wut? Er würgte sie hinunter.
    »Wenn du nicht glaubst, dass Huck es war, warum bleibst du dann nicht hier und findest heraus, wer es wirklich getan hat? Schließlich warst du doch bei Pinkerton, wenn es stimmt, was die Leute sagen.«
    Tom stöhnte auf: »Ich würde gern wissen, was für Leute das ständig sagen! Es scheint so, als würde man hier den ganzen Tag über nichts anderes reden, als dass Tom Sawyer bei Pinkerton war!«
    Becky zuckte mit den Schultern, nahm Tom die fotografische Platte aus der Hand und legte sie wieder ins Regal. »Ich sag’s ja: ein paar streunende Hunde. In St. Petersburg zerreißt man sich das Maul schon über Kleinigkeiten.« Sie drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken an das Regal. »Also, was ist: Bleibst du?«
    Tom blickte zu Boden. Er glaubte nicht, dass Huck der Täter war. Oder wollte er es nur nicht glauben? Wollte er nicht glauben, dass sein bester Freund ein Mörder war, obwohl alles dafür sprach? Ihm wurde schwindelig. Die Wirkung des Whiskeys war inzwischen verflogen, aber Dale hatte ihm zugesetzt, und er hatte noch immer nichts gegessen. Er hätte auf Harold hören sollen. Man sollte was essen, bevor man die erste Flasche leert. Schon richtig, Harold, und alle zwei Wochen sollte man auch einmal schlafen.
    Tom rieb sich die Schläfen. »Wie war das mit Sally Austin beim Gemeindefest? Wollte Huck dem Mädchen wirklich Gewalt antun?«
    Becky trat an die Druckerpresse, zog eine bedruckte Zeitungsseite heraus und hängte sie an die Wäscheleine. »Ich glaube schon. Sally ist zwar ein richtiger Wildfang, nach allem, was man hört. Verdreht den Jungs reihenweise den Kopf, macht ihnen in der Sonntagsschule schöne Augen und so weiter. Aber sie hat Huck bestimmt nicht ermutigt. Wie denn auch? Er streift in den Wäldern herum, ist selten in St. Petersburg – höchstens um die Felle der Waschbären und Füchse zu verkaufen, die er jagt, und sich dann im ›Red Oak‹ volllaufen zu lassen oder seine paar Dollar bei Madame Paulines Mädchen zu verhuren, was man so hört. Er ist als streitsüchtiger Streuner verschrien, sieht ziemlich verwahrlost aus, und er stinkt. Nicht gerade die Sorte Mann, nach der sich eine Vierzehnjährige sehnt, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Und was ist auf dem Gemeindefest passiert?«
    »Wir haben Schreie vom Friedhof gehört. Ein paar Männer sind nachsehen gegangen und haben Huck entdeckt, wie er Sally festgehalten hat. Sie hat versucht sich zu befreien und um Hilfe gerufen, sie hat geschrien, dass er sie vergewaltigen will. Lucius Austin, Sallys Vater, hat Huck niedergeschlagen, und die Männer haben schon einen Strick geknüpft und über eine alte Ulme auf dem Friedhof geworfen. Sheriff Joe Harper hat sie zurückgehalten. Schätze, auch der alten Zeiten wegen; schließlich wart ihr drei früher dicke Freunde. Huck hat behauptet, Sally würde ihm Geld schulden, und darüber sei es zum Streit gekommen, aber das klang wohl nach einer hastigen Lüge, vor allem, weil ihm die Hose in den Kniekehlen hing und er … na ja … weil er mächtig in Fahrt war, was man sich so erzählt.« Becky blickte vielsagend auf ihre Hüftgegend hinab.
    Tom nickte. »Verstehe.« Mit einem Mal war sein Kopf bleischwer. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände. Sein Hucky. Stinkend und betrunken mit einer Mordslatte zwischen den Beinen einer Halbwüchsigen. Tom spürte mit den Fingern den Schweiß an seinen Schläfen, und ihm war, als läge ein Amboss auf seiner Brust.
    Becky ging zu einem Stapel Papier, nahm einen frischen Bogen und spannte ihn in die Druckerpresse ein. »Joe hat ihm das Versprechen

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