Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
rumtreibt, wahrscheinlich kauft sie Hühner am Anleger. Mit dem Dampfschiff haben sie frische gebracht, hat sie gesagt. Verdammte Dampfschiffe. Mir wird jedes Mal schlecht, wenn ich auf einem von diesen schaukelnden Pötten bin. Aber wenn sie zurückkommt, kann sie was erleben!«
Dobbins ging an Tom vorbei und hinüber in den Gemüsegarten des kleinen Häuschens. Er schlenderte durch die Beete, bückte sich zuweilen und pflückte ein paar Blätter von einer Pflanze ab.
Tom blickte auf das Brot und den Speck in seiner Hand und dann Hilfe suchend zu Becky.
»Hattie ist Mr Dobbins’ Haussklavin … Entschuldige, sie ist natürlich sein Hausmädchen. Die Kleine kocht großartig. Du hast leider Pech, aber besser Brot und Speck als gar nichts, oder?«
Tom nickte benommen. Dann stand er auf und ging zu Mr Dobbins zwischen den Beeten, während er an dem Brot und an der Speckscheibe kaute. An hohen Holzstangen rankten sich Kletterpflanzen empor, und Tom erkannte alle möglichen Kräuter und hübsche Blumen, die überall im Garten wuchsen. Dobbins trug einen kleinen Bastkorb unter dem Arm, in den er die abgezupften Blätter fallen ließ.
»Was tun Sie da, Mr Dobbins? Sammeln Sie Brennnesseln?«
In Dobbins’ Augen blitzte der Schalk auf. »Ja, um dir damit den Hintern zu versohlen, so wie früher.« Der Lehrer deutete auf die Büsche. »Melissa officinalis , Tom. Melisse. Und hier«, er klaubte ein paar hübsche sternförmige weiße Blüten mit violetten Fäden aus seinem Korb, » Passiflora incarnata , die Passionsblume. Das da ist Valeriana officinalis , der Baldrian. Erkennst du, was das wird, Thomas? Weißt du, was ich hier für dich pflücke?«
Dobbins warf einen prüfenden Blick über seine randlose Brille und ließ seine Augen forschend auf Tom ruhen.
»Ja, Sir«, antwortete Tom. Dann bemerkte er, dass er geantwortet hatte, ohne nachzudenken, weil Dobbins einmal sein Lehrer gewesen war und weil man dem Lehrer so antwortete. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.«
Dobbins grinste und kratzte sich am Kopf. Graue Haare, Dobbins’ echte Haare, blitzten an den Schläfen keck unter der Perücke hervor. »Ich mach dir ein Schlafmittel, Tom. Was immer dir den Schlaf raubt, und nach allem, was man so hört, könnte da einiges sein …« Wieder blickte er prüfend über den Rand seiner Brille hinweg. »Was immer es ist, es wird dich nicht länger belasten nach einem Tee, den du dir mit diesen Blättern und Blüten zubereitest.« Er reckte den Zeigefinger in die Luft. »›Dass wir nicht noch kränker und verrückter sind als ohnehin schon, verdanken wir ausschließlich der größten Gabe der Natur: dem Schlaf!‹ Thomas Henry Huxley hat das gesagt, ein englischer Zoologe und erster Anhänger Darwins. Weißt du, wer Darwin ist, Tom? Nein? Ist ja auch egal. Sieh mal!«
Dobbins deutete auf eine der Kletterpflanzen, die sich an den langen Stangen emporrankten. »Nun brauche ich nur noch ein paar Früchte von dieser Pflanze. Die kennst du aber, Tom, oder? Ich gebe dir einen kleinen Hinweis: Du hast ihre segensreiche Wirkung bestimmt schon des Öfteren genossen, wenn du dich nicht allzu sehr verändert hast.«
Tom stutzte. Was für eine segensreiche Wirkung? Er zuckte mit den Schultern. »Das sind Erbsen, oder?«
Dobbins schüttelte enttäuscht den Kopf, als säße Tom noch in der vorletzten Bank der Sonntagsschule und hätte einmal wieder die Konjugation eines Verbs vermasselt. »Siehst du diese kleinen Zapfen nicht, Tom? Sind das etwa Erbsen?«
»Nein, Sir.« Tom schüttelte betreten den Kopf. Er sah sich nach Becky um und entdeckte zu seinem Missfallen, dass sie dem Schauspiel belustigt zusah und ein Lachen unterdrückte. Etwas war in ihrem Lächeln, in ihren Augen, die strahlten vor Vergnügen, was ihn verwirrte. Er zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden.
Dobbins sprach mit triumphierendem Tonfall weiter. »Hopfen, mein Lieber! Humulus lupulus! Und man macht Bier daraus, das du bestimmt schon des Öfteren gekostet hast, oder? Erbsen sind das hier! Und sie haben uns das Geheimnis des Lebens verraten, Tom, oh ja!«
Tom blickte seinen ehemaligen Lehrer etwas ratlos an, als der mit einem entrückten Lächeln auf einige wild wuchernde kniehohe Büschel deutete, an denen gelbe und grüne Schoten hingen.
»Das Geheimnis des Lebens, Sir? Erbsen?«
»Oh ja! Das glaubst du mir nicht, was, Tom? Du hast mir schon früher nicht geglaubt oder mir nicht zugehört. Aber es ist wahr! Warum sehen wir aus, wie wir aussehen?
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