Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
wenn ich mir ein Bild für die Zeitung leisten will. Ich setze die Buchstaben, ich drucke die Zeitung, ich bestelle das Papier, mache die Abrechnung, liefere sie aus, mache hier sauber, und ich koche Kaffee für jeden dahergelaufenen Kerl, der sich im Saloon hat verprügeln lassen – vorausgesetzt, er hat eine gute Geschichte für meine Zeitung zu erzählen.«
»Eine gute Geschichte?«
»Man sagt, du wärst bei Lincoln gewesen. Als es passiert ist.«
»Oh, das?«
»Ja. Das. Washington ist weit weg. Meine Leser brennen darauf, exklusiv eine Geschichte aus erster Hand von den letzten Stunden des Präsidenten zu lesen.«
Tom blickte zu Boden, verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. »Das wird leider keine Heldengeschichte. Deine Leser in St. Petersburg würden über einen Mann lesen, der auf Lincoln aufpassen sollte, der aber geschlafen hat, als der Präsident erschossen wurde. Ich bin mit schuld, wenn man so will.«
Becky schob die Unterlippe vor. »Oh, das würde dich in ihren Augen erst recht zu einem Helden machen.«
Tom schüttelte verständnislos den Kopf.
Becky lächelte traurig. »Die Typen im Saloon? Wir haben viele Veteranen des Südens hier in St. Petersburg. Man nennt Marion County auch Little Dixie , falls du dich erinnerst. Und die Besatzungstruppen der Union, die während des Bürgerkriegs hier stationiert waren, haben sich wenig Freunde gemacht, auch wenn Missouri in der Union geblieben ist und auch wenn die Sklaverei hier abgeschafft wurde, Tom … oder lieber Thomas ?«
»Nein – Tom. Tom wie eh und je. Ein paar von uns müssen ja schließlich ihren Namen behalten, oder?« Tom grinste frech, doch dann zuckte er zusammen, weil sein Kiefer schmerzte. »Was ist mit dir, Beck… Rebecca? Wie denkst du darüber?«
Becky stellte ihre Kaffeetasse ab und machte sich daran, die zum Trocknen aufgehängten Zeitungsblätter von den Wäscheleinen zu zupfen und nach einem für Tom nicht zu erschließenden System ineinanderzulegen. »Wie ich darüber denke? Darüber, dass Abraham Lincoln gesagt hat, alle Menschen seien gleich?«
»Ja?«
»Du würdest wahrscheinlich gern hören, dass auch ich so denke, Tom Sawyer, hm? Das würdest du doch gerne hören?«
Tom zuckte arglos mit den Schultern. »Ja.«
»Oh, und so denke ich auch tatsächlich. Doch es stimmt leider nicht. Nicht vor dem Krieg und nicht danach. Es stimmt einfach nicht. Die Menschen sind nicht gleich!«
»Aber … aber die Schwarzen sind jetzt frei! Ein schwarzer Mann kann sich jetzt sein eigenes Haus bauen, sich frei eine eigene Arbeit suchen, er kann frei wählen.«
Becky riss die Arme hoch, und die Zeitungsblätter flatterten auf. »Ach wie schön! Schön, dass der schwarze Mann frei wählen kann. Soll ich dir etwas sagen? Seine Frau kann es nicht! Ich kann es auch nicht! Weißt du, wie man mich anschaut, wenn ich allein mit dem Pferd nach Palmyra reite? Soll ich dir von den Blicken der Männer erzählen, wenn ich mit ihnen um Papier oder Druckerschwärze feilsche? Soll ich dir erzählen, wie man mich ausgelacht hat, als ich Ersatzteile für die Druckerpresse kaufen wollte? Dass mein Vater den Kaufvertrag für diese Zeitung für mich unterschreiben musste? Soll ich dir sagen, wie wütend ich war, als man mich in der Kirche herablassend und voller Mitleid angeschaut hat, weil ich mit knapp dreißig Jahren allein in der Bank saß, weil ich noch nicht verheiratet war, und dass es mich noch mehr geärgert hat, als man mir dann wieder freundlich und respektvoll begegnet ist, weil ich mich mit Sid verlobt hatte? Als wäre ich von einer schweren Krankheit genesen? Alle da draußen …«, sie wies mit dem ausgestreckten Finger auf die stumpfen Fensterscheiben, »alle da draußen warten nur darauf, dass ich mit dieser Zeitung Schiffbruch erleide, weil sie es nicht ertragen können, dass eine Frau eine andere Arbeit macht, als am Herd zu stehen, ihre Kinder zu hüten und sonntags in die Kirche zu gehen. Alle! Und du willst wissen, was ich davon halte, dass alle Menschen gleich sind, Tom Sawyer?«
Becky war laut geworden. Mit einem Stapel Zeitungsblätter unter dem Arm ging sie auf Tom zu und reckte angriffslustig das Kinn vor.
Tom kam nicht umhin, ihre zarte Haut zu bemerken. Und das umwerfende Blau ihrer Augen. Er zuckte mit den Schultern. »Ja. Das will ich wissen.«
Sie nickte wortlos, dann warf sie die Zeitungsblätter nachlässig auf den Tisch neben der Druckerpresse. Staub wirbelte auf und glitzerte im Abendlicht, das
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