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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Frachtwagen. Einer. Dann noch einer. Wie lang war der Zug? Ein Schuppen versperrte ihm die Sicht. Der dritte Frachtwagen. Dann war Schluss.
    Der Zug war vorübergezogen.
    Tom schwang sich über das Gatter und rannte dem Zug hinterher. Der Kies im Gleisbett knirschte unter seinen hämmernden Schritten und machte ihn langsamer. Tom sprang zwischen die Gleise und lief auf den Schwellen weiter, um schneller zu werden. Der beißende Rauch, der alles hinter dem Zug einhüllte, nahm ihm den Atem. Seine Beine schmerzten, seine Lungen brannten. Die letzte Plattform des Zuges war nur mehr eine Armlänge entfernt. Er streckte die Finger nach dem Geländer der Plattform aus und bekam den Handlauf zu fassen. Der Zug wurde immer schneller!
    Tom griff mit der anderen Hand nach dem Handlauf und klammerte sich an das Geländer. Er stieß sich vom Boden und schwang die Beine herauf. Zitternd hielt er sich fest. Er war auf dem Zug. Er fuhr mit!
    Dann hievte er sich über das Geländer auf die Plattform und blieb einen Moment lang keuchend liegen. Als sich sein Atem wieder etwas beruhigt hatte, war der Zug bereits aus der Stadt gefahren, vereinzelte Scheunen und erste Weizenfelder zogen links und rechts der Schienen vorbei.
    Tom richtete sich auf und nahm den Revolver aus dem Gürtel. Er zog die Tür zum Frachtabteil auf.
    Dutzende Koffer, Kisten und Käfige mit Hühnern und Enten standen auf dem Boden und waren in grob zusammengezimmerte Regale gestapelt. Die Hühner gackerten aufgeregt und übertönten das ohrenbetäubende Rattern des Zuges. Tom durchmaß den Frachtwagen mit drei schnellen Schritten, riss die Tür am anderen Ende auf, kletterte über beide Plattformen in den nächsten Frachtwaggon, der ebenso vollgestopft mit Gepäck war wie der erste. Als er auch ihn durchquert hatte und die Tür zum nächsten Wagen aufzog, hielt er einen Augenblick lang inne. Hier, unter einem Regal, stand ein großer Reisekoffer mit Messingbeschlägen.
    Dobbins’ Koffer!
    Tom schob ein Fass zur Seite und zog ihn unter dem Regal hervor. Er bemerkte ein paar kleine kreisrunde Löcher unter den Tragegriffen an der Seite. Luftlöcher!, durchfuhr es ihn.
    »Hattie? Hattie, hörst du mich?«
    Es kam keine Antwort. Tom riss am Deckel, aber ein kleines Vorhängeschloss verhinderte, dass er den Koffer öffnen konnte. Sollte er das Schloss wegschießen? Zu riskant. Gehetzt sah Tom sich um, entdeckte neben der Tür ein paar Metallstangen und eine Werkzeugkiste. Er mühte sich mit einer Zange an dem Schloss ab, dann warf er das Werkzeug wütend weg, nahm eine der Stangen und schlug damit zu. Nach drei Schlägen ging das Schloss zu Bruch, und der Deckel sprang auf. Sein Herz setzte für einen Schlag aus.
    Hattie.
    Zusammengekrümmt, mit angezogenen Beinen, die Hände auf dem Rücken gefesselt, lag sie in dem Koffer. Sie war zierlich. Fast wie ein Kind. Sie wirkte blass unter der dunklen Haut. Ihr Kinn war blutverschmiert. Tom schluckte, legte ihr zwei Finger an den Hals und fühlte einen schwachen Puls. Sie schlief, oder sie war ohnmächtig. Einen Moment lang blieb er ratlos stehen. Was tun?
    Er hob sie aus der Kiste und legte sie vorsichtig auf den Boden des Frachtwaggons. Dann trat er auf die Plattform zum nächsten Wagen. Als er die Tür aufriss, starrten ihn zwei Postbeamte aufgeschreckt an. Sie sortierten Briefe aus Säcken in ein großes Regal mit unzähligen Fächern.
    »Hank! Hank, wach auf!«
    Ein dicker grauhaariger Bahnbeamter mit einem buschigen Schnauzbart wie ein Walross saß auf einem Stuhl in der Ecke und döste. Verschlafen öffnete er die wässrigen Augen. Als er Tom sah, schnappte er nach Luft, und seine Hände griffen nach dem Gewehr, das neben ihm an der Wand lehnte.
    Tom hob den Revolver. »Lassen Sie das! Ich will nichts von Ihnen! Im Zug ist ein Mörder! Kümmern Sie sich um das Mädchen nebenan!«
    Er deutete hinter sich zu Hattie und stürmte an ihnen vorbei zum nächsten Wagen, bevor einer der verblüfften Männer etwas sagen konnte. Er kletterte über die Plattform und gelangte in den ersten Personenwagen. Die Reisenden in den Sitzreihen blickten erschrocken auf, als der Mann mit der Waffe an ihnen vorbeiging und jeden Einzelnen musterte.
    Tom war bereits durch den halben Wagen gerannt, als hinter ihm eine Stimme erschallte. »Bleiben Sie stehen, Mann!«
    Der Schnauzbart aus dem Postabteil kam hinterhergerannt. Er legte auf Tom an. Die Fahrgäste schrien erschrocken auf. Tom drehte sich zu ihm um, als plötzlich das Bellen eines

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