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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Mrs Watson, gefragt. Die Männer sagten ihm, Jim sei zu Hause bei seiner Familie, und Tom hatte nur genickt und sich schweigend zu ihnen gesetzt. Schließlich hatten sie ihre Überraschung und ihren Argwohn überwunden und weitergesungen.
    Die Musik gab Tom so etwas wie Ruhe. Er schloss die Augen.
    Pollys Gesicht tauchte vor ihm auf, so wie sie früher gewesen war, nicht so, wie sie auf den Dielen gelegen hatte. In ihrem eigenen Blut. Tom spürte ihre Hände an seinen Wangen. Immer wenn sie ihm etwas eindringlich hatte sagen wollen, hatte sie sein Gesicht mit beiden Händen umfasst. Wenn sie mit ihm schimpfte, wenn er wieder Unfug angestellt hatte. Oder wenn sie ihm ihre Zuneigung zeigte. Als er mit Huck und Joe Harper ein paar Tage lang ausgebüxt war und man sie in St. Petersburg für tot gehalten hatte und die Jungen dann auf ihrer eigenen Beerdigungsfeier in der Kirche aufgetaucht waren, da hatte sie sein Gesicht in die Hände genommen und ihn an sich gedrückt. In ihren Augen hatte damals nichts als Liebe gestanden.
    Eine eiserne Faust legte sich um Toms Herz und drückte zu.
    Ihre Hände! Knochige, schrundige Hände mit sehnigen Fingern.
    Bläuliche Adern liefen über den Handrücken, und einen Moment lang kam es Tom vor, als fühle er auf seinen Wangen die Wärme, die von ihren Fingerspitzen ausging.
    Der Gesang der Männer auf dem Anleger wurde leiser. Die Ersten gingen, zwei andere rollten sich in Baumwollsäcke und schliefen ein. Jemand löschte die Lampe und ging dann mit schlurfenden Schritten vom Anleger.
    Tom lag wach.
    Hatte er eben an Polly gedacht, oder war er tatsächlich kurz eingeschlafen und hatte von ihr geträumt? Er wusste es nicht. Aber er wusste nun, was zu tun war.
    Er stand auf, und Hollis hob den Kopf von den Pfoten.
    »Komm, Kleiner«, sagte Tom. »Wir müssen das Gesetz brechen.«

Redaktion des St. Petersburg Chronicle, am Morgen
des 12. Juli 1865
    Sie stöhnte unter dem Gewicht der beiden in Packpapier eingeschlagenen Setzkästen, die sie beim Postamt abgeholt hatte und nun über die 3 rd Street zu ihrer Redaktion schleppte. Das Dampfschiff hatte ihr die Bestellung aus Chicago mitgebracht, ständig brauchte sie Nachschub, weil das Inventar ihres Vorgängers alt und abgenutzt war.
    Der Chronicle war ein Fass ohne Boden. Wenn sie ihre Auflage nicht bald steigern würde, musste sie ihrem Vater eingestehen, dass der Versuch gescheitert war. Was würden sich die Lästermäuler und Neider in St. Petersburg freuen, wie würden sie sich hinter vorgehaltener Hand das Maul zerreißen.
    Beckys Wangen waren rot, aber nicht nur vom Gewicht der Setzkästen und der schon unerbittlich brennenden Morgensonne. Becky war wütend. Wütend auf Tom. Auf sich selbst und auch auf Sid. Der gestrige Abend war nicht so verlaufen, wie sie es sich gewünscht hätte. Tom hatte sich unmöglich benommen. Oder etwa nicht?
    Oder hatte er recht? Wie schaffte er es nur, nach gerade einmal einem Tag in St. Petersburg alle und alles durcheinanderzubringen?
    Sie überquerte die Main Street, nickte der eleganten, aber ebenso verkniffenen Mrs Temple zu, machte einen Bogen um einen betrunkenen Veteranen, der nur noch ein Bein hatte und der im Schatten einer Ulme seinen Rausch ausschlief, und sah Willie Mufferson mit einem Aktenordner unter dem Arm und mit einer schlampig gebundenen Krawatte in das Büro des Anwalts eilen.
    Becky seufzte.
    Tat sie Tom unrecht? Waren alle nur wegen Pollys Tod durcheinander, und Tom tat das einzig Richtige, indem er das Offensichtliche nicht glauben wollte und lieber eigene Fragen stellte? Wäre das nicht auch die Haltung und Aufgabe einer Journalistin? Und wie kam es überhaupt, dass sie den Drang spürte, nett zu ihm zu sein, sobald er in ihrer Nähe war? Sie hatte sich lange ausgemalt, wie es sein würde, wenn Tom eines fernen Tages einmal wieder nach St. Petersburg zurückkommen sollte. Und sie hatte sich fest vorgenommen, nicht nett zu sein, wenn es so weit war, sondern ihn gar nicht zu beachten. Sie hatte eine verheiratete Frau sein wollen, die eine erfolgreiche Zeitung führte und die ihn einfach nicht beachtete. Und jetzt? Jetzt war sie nett.
    Zumindest kam es ihr so vor.
    Sie biss sich auf die Lippen, ärgerte sich über ihre Selbstzweifel und stieg die zwei Stufen hinauf, die zur überdachten Veranda vor dem Chronicle führten. Sie stellte die Setzkästen ab, klopfte sich den Staub der Straße von den Rockschößen und suchte in ihrem Beutel nach dem Schlüssel, als sie bemerkte,

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