Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
tief herunterhängenden Zweige der Weiden schaukelten sanft in den Uferwellen. Motten umschwirrten die kleine Petroleumlampe, und gelegentlich hörte man die Welse im Fluss nach Luft schnappen. Die Männer waren erschöpft von der Arbeit des Tages, dennoch saßen sie noch auf dem Anleger zusammen und sangen leise zur Melodie einer Mundharmonika.
O Lord, trouble so hard.
Yes, indeed, my trouble is hard.
O Lord, trouble so hard.
Don´t nobody know my troubles but God …
Das Lied schien direkt aus Toms Seele zu kommen. Oh ja, niemand außer Gott wusste um seinen Kummer. Er lag auf einem Stapel leerer Säcke, und sein Blick ging in den unendlichen Sternenhimmel über ihm. Die Luft war warm und roch nach Schilf und verrottenden Seerosen. Hollis’ Atem ging ruhig, der Hund hatte die Augen geschlossen. Tom hätte viel dafür gegeben, wenn er mit Hollis hätte tauschen können.
Yes, indeed, my trouble is hard.
Nachdem er die rätselhafte Seifenschachtel gefunden hatte, hatte Tom systematisch das ganze Haus durchsucht, während Hollis sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte und schnarchend eingeschlafen war. Auch Sid schlief anscheinend tief und fest in ihrem früheren Zimmer im Obergeschoss, und Tom hatte nicht vor, daran etwas zu ändern. Leise wie einst ihr Kater Peter schlich er durchs Haus, öffnete Schubladen, Türen und Schränke.
Tom blätterte die Handvoll Bücher und Gesundheitszeitschriften durch, die Polly besessen hatte, um nach einem Schlüssel für den Zahlencode zu suchen. Er drückte auf die Dielenbretter, um zu sehen, ob eines lose war, hob den Teppich an, griff unter das Sofa und suchte nach Hinweisen, woher sie das Geld gehabt haben könnte.
Er nahm die Lampe und suchte im Garten und vor dem Haus nach einer Tatwaffe. Er zog die Bodenluke an der Außenwand auf und suchte den engen, niedrigen Erdkeller ab, fand jedoch nichts außer eingemachten Bohnen, Marmeladetöpfen und Kohl. Nach zwei Stunden nahm er die Außentreppe nach oben, durchsuchte Pollys Truhe und ihre Kommode. Doch er fand nichts.
Im ganzen Haus nicht und draußen auch nicht. Nichts, das ihm weiterhalf, nichts, das das kryptische ER IST HIER erklären würde.
ER IST HIER .
Tom legte sich in Pollys Bett, da Sid in ihrem alten gemeinsamen Zimmer schlief. Wenn er die Worte richtig deutete, glaubte seine Tante, dass ein Mann für das Verschwinden von Debbie Chisholm, Fanny George und Gracie Miller verantwortlich war. Sonst hätte sie die drei Zeitungsausschnitte wohl kaum zusammen aufbewahrt.
Ein Mann. Ein Mörder. Und sie glaubte wohl, dass dieser Mann HIER war.
HIER in St. Petersburg. Und sie wusste, wer ER war.
Und das war ihr vielleicht zum Verhängnis geworden.
ER war ihr zum Verhängnis geworden.
ER .
War ER Huck?
Tom wälzte sich in dem schmalen Bett von einer Seite auf die andere. Er hatte das Licht gelöscht, und der Mond malte ein helles Quadrat mit einem Kreuz auf die Holzwand an der Stirnseite des Bettes. Vom Anleger drang ganz leise eine Melodie zu ihm. Tom schloss die Augen, dachte über den Code nach, über das Geld, über die Zeitungsartikel und über die seltsamen Stängel mit den Bindfäden. Doch er konnte sich nicht konzentrieren. Beckys Gesicht blitzte immer wieder vor seinem inneren Auge auf. Becky, wie sie Sid einen Kuss auf die Stirn gab. Warum störte ihn das? Herrgott noch mal, Sid war sein Bruder, und Becky … Rebecca war seine Vergangenheit. Sie waren im Streit auseinandergegangen, und er empfand nichts mehr für sie, und dennoch seufzte er, wenn er an sie dachte.
Seine Lider gehorchten ihm nicht und gingen immer wieder von selbst auf. Er kam einfach nicht zur Ruhe, und er wusste, er würde bald wahnsinnig werden, wenn er nicht aufhören würde nachzudenken und wenn er nicht endlich etwas Schlaf bekäme.
Als er nach einer Stunde sinnlosen Herumwälzens schließlich aufgab, fühlte Tom sich so zerschlagen und matt wie nach einer durchzechten Nacht. Er warf sich das Jackett über und ging die Treppe hinunter. Hollis erwachte auf dem Sofa, schlüpfte mit Tom durch die Hintertür und trottete neben ihm her, als der den Weg zum Anleger einschlug.
Zunächst hatten die jungen Männer am Flussufer erstaunt und argwöhnisch aufgeblickt und mit dem Singen innegehalten, als der weiße Mann mit seinem Hund zu ihnen getreten war. Es war schon tiefe Nacht. Was wollte der Fremde? Ärger lag in der Luft.
Aber Tom hatte nur an seinen Hut getippt und nach Jim, seinem alten Freund und ehemaligen Haussklaven von
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