Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
ihre Wangen war auch ihr Halsauschnitt mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt.
Warum sah sie ihn so an? Warum stand sie so dicht bei ihm? Herrgott, er konnte sich nicht konzentrieren, und genau das sollte er jetzt! Ohne es zu wollen, nahm er ihre Hand.
»Hör mal, Becky … Rebecca … Das mit gestern Abend, ich … Ich will euch nicht zur Last fallen. Dir und Sid. Will auch gar nichts durcheinanderbringen … hier in St. Petersburg, meine ich. Ich will dir nur sagen …« Er stockte, als er sah, wie groß ihre Augen plötzlich wurden. Ja. Was wollte er ihr eigentlich nur sagen?
Gebannt blickte Becky ihn an. Sie zog ihre Hand nicht zurück.
Täuschte er sich, oder kamen sich ihre Köpfe näher? Ging diese Bewegung von ihr aus? Von ihm? Von beiden? Hör auf! , schrie eine Stimme in seinem Kopf. Lass es, verdammt! Tom senkte den Blick wieder und er entdeckte die Halskette, die er schon einmal an Becky bemerkt hatte. Der Anhänger, sonst unter dem Ausschnitt ihres Kleides verborgen, lag nun über dem Stoff zwischen den Wölbungen ihres Busens. Es war ein Messinganhänger. Eine Art Knopf.
Tom blinzelte. »Ist … das der Messingknopf vom Feuerbock, den ich dir mal geschenkt habe? Als wir fast noch Kinder waren?«
Becky blickte an sich hinunter und dann zu ihm auf. Sie blinzelte ebenfalls, als erwachte sie aus einer Starre. Dann steckte sie den Anhänger zurück in den Ausschnitt ihres Kleides, strich die Falten glatt, drehte sich um und lachte. »Ja. Ich hatte ihn damals weggeworfen und dann doch wieder aufgehoben. Hat mir irgendwie Glück gebracht, schätze ich. Deswegen hab ich ihn behalten. So als Talisman eben. Hab mir nie groß was dabei gedacht.«
Sie blieb vor dem auf dem Boden ausgebreiteten Inhalt der Seifenschachtel stehen und deutete auf die herumliegenden Zeitungen. »Was ist? Hast du schon alles gelesen? Sollen wir zusammen suchen? Bekomm ich dann vielleicht mein Interview über die letzten Stunden von Abraham Lincoln und über die Jagd auf John Wilkes Booth?«
Sie lächelte arglos, als hätte es den Moment am Fenster gerade nie gegeben. Und doch war sich Tom ganz sicher, dass es ihn gegeben hatte. Er schwieg einen Augenblick, dann ging er zu Becky, ließ sich auf die Knie nieder und versuchte, Ordnung in den Wust aus Zeitungspapieren zu bringen.
»Die hier habe ich durch. Das hier …«, er schob einen kleinen Stapel aus drei Zeitungen zu Becky, »sind die Ausgaben, aus denen die Artikel über die verschwundenen Frauen stammen. Oktober ’ 57 , Gracie Miller. August ’ 61 , Fanny George. September ’ 63 , Debbie Chisholm. Und Hattie Cooper ist vor vier Tagen, am 8 . Juli ’ 65, verschwunden. Fällt dir etwas auf?«
Beckys Augen wanderten über die Zeitung, dann zu Tom. Unsicherheit lag in ihrem Blick.
»Die Abstände werden kürzer?«
Tom nickte. »Richtig. Sie werden kürzer, weil der Mann diesen Drang, den er hat, eine Frau zu entführen und weiß Gott was mit ihr anzustellen, nicht bezähmen kann. Im Gegenteil: Er will mehr. Das scheint bei dieser Art von Täter fast immer so zu sein. Sagt zumindest Allan Pinkerton. Aber vielleicht hat Tante Polly auch etwas übersehen. Vielleicht ist noch eine Frau seit September ’ 63 verschwunden, und Polly hat es überlesen, oder sie konnte die Tat dem Täter nicht zuordnen.«
»Wieso nicht zuordnen?«
»Vielleicht, weil es eine scheinbar vernünftige Erklärung für das Verschwinden der Person gab. Vielleicht, weil das Opfer nicht augenscheinlich in die Reihe hineinpasst, vielleicht ist es ein kleines Mädchen oder eine sehr alte Frau.«
Becky nickte und schnappte sich aufs Geratewohl eine Zeitung, schlug sie auf und verschwand hinter den vergilbten Blättern. Tom bog die Zeitung am Falz herunter, und Beckys Gesicht erschien wieder. »Wir suchen außerdem vor und nach den Entführungen nach weiteren Artikeln zu den Entführten. Vielleicht gab es weitere Erkenntnisse. Vielleicht sind Zeugen aufgetaucht. Vielleicht hat man neue Spuren gefunden. Such nach anderen Verbrechen zu der Zeit oder nach etwas, was eine Verbindung zu den Frauen oder ihren Verwandten haben könnte. Such nach ungewöhnlichen Vorgängen!«
Becky zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Nach ungewöhnlichen Vorgängen?«
Tom schnaubte: »Ja, verdammt, ich weiß doch auch nicht, was. Deswegen suchen wir es ja!«
Becky grinste und verschwand wieder hinter der Zeitung. Tom griff nach einem Stapel mit Ausgaben vom Winter ’ 63 /’ 64 und vertiefte sich in die Lektüre.
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