Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
gegründete Marion zu ziehen, weil dort eine blühende Zukunft wartete und weil der Handel in St. Petersburg seit Jahren stagnierte. Das Ufer von Marion City war ein Sumpf gewesen, doch die Stadtgründer glaubten, sie könnten ihn trockenlegen. Das Frühjahrshochwasser von 1836 hatte sie eines Besseren belehrt.
Es war ein Irrtum, den seine Mutter mit dem Leben bezahlt hatte.
Tom hustete, blinzelte die Tränen weg und nahm die Fotografie heraus, um zu sehen, was darunter war.
Ein Bündel Geldscheine und ein paar Münzen lagen da. Tom sah auf einen Blick, dass es richtig viel Geld war. Er ließ das Bündel Greenbacks durch die Finger gleiten und zählte mit den Münzen 434 Dollar und zehn Cent. Zusammen mit dem Bankguthaben nicht gerade wenig für eine als mittellos geltende alte Dame. Wo kam das Geld her? Von den Decken, die sie genäht und in Lucius Austins Drugstore verkauft hatte?
Wohl kaum.
Tom nahm das Geld heraus und entdeckte darunter vier kurze Stöckchen oder eher getrocknete Stängel eines Strauchs oder einer Blume. Sie waren leicht, von verblichenem Gelb, geruchlos und etwas länger als Toms Mittelfinger.
An einem Ende waren sie durchbohrt worden, und durch die kleinen Löcher hing je ein Bindfaden. Was war das? Ein Gewürz? Und warum versteckte Polly diese Dinger in einer Schachtel? Tom konnte sich keinen Reim darauf machen und nahm auch die Stöckchen aus der Blechbüchse.
Ein zusammengefalteter Zettel lag am Boden der Seifenschachtel, und als er ihn herausholte, fielen ihm vergilbte Zeitungsausschnitte entgegen. Tom faltete den Zettel auseinander und legte die Stirn in Falten. Das Blatt war vollgeschrieben mit Zahlenreihen.
1865
19 24 25 26 111 24 328 19 11 18 27 19,00
34 46 65 23 56 32 33 115 63 42 25,00
324 78 515 25 211 31 15 512 27 13 67 22,00
22 111 410 21 43 15 14 25 52 316 28 73 71 71 25,00
1865 war möglicherweise eine Jahreszahl, aber der Rest? Daten? Eine Rechnung? Ein verschlüsselter Code vielleicht? Aber wie verschlüsselt? Und warum sollte Polly überhaupt etwas verschlüsseln? Tom legte den Kopf schräg und knetete mit Daumen und Zeigefinger seine Unterlippe. Die Blechdose gab ihm Rätsel auf. Er legte den Zettel mit den Zahlenkolonnen zur Seite und nahm die drei Zeitungsausschnitte zur Hand, die alle aus dem St. Petersburg Chronicle stammten und schon einige Jahre alt zu sein schienen. Tom überflog den ersten.
St. Petersburg, 25. September 1863
SONDERBARES VERSCHWINDEN
Junge Dame aus St. Petersburg vermisst
Während unsere Helden bei der Schlacht am Chikamauga ihr Blut für das Wohl der Nation lassen mussten, erreichte unsere Redaktion die Nachricht eines höchst sonderbaren Falles einer verschwundenen Frau. Debbie Chisholm, 22 Jahre alt und gebürtig aus St. Petersburg, lebte bis dato mit ihrem Mann Carl Chisholm auf der Gemarkung der ehemaligen Siedlung Marion City in einer einfachen Hütte.
Carl Chisholm, ein Fischer, der im Mississippi nach Welsen angelt, kam am vergangenen Freitag nach der Arbeit zurück nach Hause und fand seine Frau dort nicht mehr vor. Über dem Feuer hing ein Topf mit kochendem Wasser, die Schmutzwäsche schwamm in einem Zuber. Das Wasser darin war noch warm. Es schien also, als hätte seine Frau das Haus vor nicht allzu langer Zeit verlassen. Mr Chisholm hatte sich zunächst keine Sorgen gemacht und angenommen, seine Frau sei etwa zu den Nachbarn gerufen worden, um dort bei einem Notfall zu helfen. Doch dem war nicht so. Als es dunkel wurde, machte er sich auf die Suche nach seiner Frau, doch keiner der wenigen, weit verstreut lebenden Nachbarn hatte Debbie Chisholm an diesem Nachmittag gesehen. Zu Mr Chisholms großer Verzweiflung blieb seine Frau auch verschwunden, als sich am nächsten Tag ein Suchtrupp unter Leitung des Sheriffs bildete, um die Vermisste zu suchen.
Da in jüngster Zeit Überfälle von Freischärlern der Rebellen, die unionstreue Farmer und Bürger drangsalieren, bedauerlicherweise an der Tagesordnung sind und Mrs Chisholm in der Vergangenheit, genau wie ihr Gatte, aus ihrem Eintreten für die gerechte Sache der Union keinen Hehl gemacht hat, ist wohl davon auszugehen, dass die Unglückliche das Opfer einer dieser marodierenden Banden wurde. Möglicherweise hat man Mrs Chisholm verschleppt oder ihr gar Schlimmeres angetan. Unser Mitgefühl gilt Carl Chisholm, einem treuen Ehemann, dem das Schicksal seiner geliebten Frau wohl auf ewig verborgen bleiben wird und der sich fortan als Witwer betrachten muss.
Ungläubig
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