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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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französisch klingende Wort, das Tom ausgesprochen hatte, sagte ihr offenbar ebenso wenig.
    »Ja. Du nimmst ein Buch oder einen Text und codierst deine geheime Nachricht über die Buchstaben in diesem Text. Dabei gibst du zum Beispiel den Buchstaben eines jeden Wortes in einem Zeitungsartikel eine Zahl entsprechend ihrer Position im Text. Ganz einfach, schau, hier …«
    Tom nahm einen Bleistift und eine Ausgabe des Chronicle , die vor ihm lag. Er unterstrich den Zeitungsnamen: St. Petersburg Chronicle. »Das ist mein Verschlüsselungstext«, sagte er. Dann machte er eine Zahlenreihe darunter:
    18 13 14 2 4 1 5 6 9 21 19 13 18
    »Und das ist mein Geheimtext.« Tom gab Becky den Bleistift und zog aufmunternd die Augenbrauen hoch. »Und? Kriegst du’s raus?«
    Becky stutzte, dann nahm sie zögernd den Stift und schrieb Zahlen unter die Buchstaben:

    Becky biss sich auf die Unterlippe, sie ordnete den Zahlen in Toms Geheimtext die entsprechenden Buchstaben des Zeitungsnamens zu und ließ den Bleistift über das Papier kratzen. Tom, der neben ihr kauerte, kam nicht umhin, die feinen blonden Härchen in ihrem Nacken zu bemerken. Und Ihren Geruch. Sauber, blumig, mit einem Hauch von Seife. Einen Geruch, der aus einem anderen Leben zu ihm drang wie eine fast vergessene Erinnerung. Unwillkürlich schloss er die Augen und sog ihn ein.
    »Sag mal, schnüffelst du an mir?«
    Tom riss die Augen wieder auf. »Ich? Nein, ich meine … ich bin wahrscheinlich noch etwas … du weißt schon … müde.«
    Unbestimmt wedelte er mit der Hand. Becky nickte wenig überzeugt und widmete sich wieder Toms Chiffre. Schließlich legte sie den Bleistift weg und las die Zeile, die sie auf das Zeitungsblatt geschrieben hatte.
    »ICH TESTE BECCI«
    Sie schwieg. Dann blickte sie Tom an, und in ihren Augen leuchteten Erstaunen und Anerkennung für sein kleines Kunststück. Tom zuckte mit den Schultern und drehte lächelnd die Handflächen zur Decke. »Der Schlüsseltext ist sehr kurz und hat kein ›A‹, sonst hätte da natürlich ›Rebecca‹ gestanden und nicht ›Becci‹.«
    »Natürlich.« Ihr Lächeln war kurz und säuerlich.
    »Aber du siehst schon, dass ich das T einmal als 2 und einmal als 5 codieren konnte. Und das E einmal als 4 , einmal als 6 und einmal als 21 . Auf diese Art und Weise kann man Texte verschlüsseln, ohne dass man ein einziges Mal die gleiche Zahl für den gleichen Buchstaben verwendet. Der Geheimtext ist quasi nicht zu knacken, wenn man den Verschlüsselungstext nicht kennt.«
    Becky nickte sichtlich beeindruckt. »Und … deswegen bist du in meine Redaktion eingebrochen? Weil du in alten Zeitungen nach dem Verschlüsselungstext suchst?«
    Tom stand auf. Er wandte ihr den Rücken zu und trat ans Fenster. »Ja. Auch. Ich habe es gestern zuerst mit ihren Büchern, mit der Bibel und den Gesundheitszeitschriften versucht. Aber das hat nicht funktioniert. Dann mit diesen drei Zeitungsartikeln über die verschwundenen Frauen. Das war’s auch nicht. Dann dachte ich an die Zeitung selber, an die Überschrift, die Zeilen darunter. Weißt du, es muss etwas sein, was sehr offensichtlich ist, was sie immer zur Hand hatte. Bei Tante Polly gab es aber keine Zeitungen mehr, die waren alle verfeuert. Also bin ich hierhergekommen. Ich wollte auch mehr über die verschwundenen Frauen erfahren. Vielleicht hat Polly nicht alle Artikel gefunden. Vielleicht gab es noch mehr Frauen, die verschwunden sind. Vielleicht gab es andere Hinweise auf … ihn .«
    Becky stand auf und trat neben Tom ans Fenster. In der staubigen Gasse hinter der Redaktion balgten sich zwei Schweine grunzend um einen Kohlstrunk, und eine alte Frau klopfte einen Teppich mit einem abgebrochenen Besenstiel.
    Becky blickte Tom in die Augen. »Du glaubst, sie hatte recht? Jemand ist gekommen und hat die jungen Frauen ge… geholt?« Sie sprach leise, flüsterte beinahe, und in ihrer Stimme lag Furcht.
    Tom nickte. »Ja. Genau das glaube ich. Es kann kein Zufall sein. Etwas hat Polly glauben lassen, dass sie wusste, wer es ist. Oder zumindest wusste sie, dass es ihn gibt.«
    »Aber wer? Und warum tut er das? Glaubst du, er vergeht sich an ihnen? Warum findet man keine Leichen? Glaubst du … Huck …?«
    Tom wich ihrem Blick aus. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden.«
    Sie standen nah beieinander, und wieder nahm Tom ihren Geruch wahr. Durch die Scheibe fiel milchiges Licht auf ihren Hals. Schlank und anmutig, ging es Tom durch den Kopf. Genau wie

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