Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
trug er einen schmalen gezwirbelten Schnurrbart. Er sah nicht aus, wie Tom sich einen Fischer vorstellte, zumindest sein Kopf sah nicht so aus. Der Körper hingegen war groß und sehnig, und die Adern an den muskulösen Armen traten deutlich hervor.
Tom tippte an seinen Hut. »Sir. Sind Sie Mr Chisholm?«
Der Fischer verschränkte die Arme vor der Brust, als die Fremden neben dem Portal stehen blieben, hielt in der Rechten das dünne schartige Messer, mit dem er die Fische ausgenommen hatte, fest umklammert. »Und wer will das wissen?«
Tom versuchte ein gewinnendes Lächeln aufzusetzen und wies auf Becky. »Rebecca Thatcher vom St. Petersburg Chronicle . Und mein Name ist Sawyer. Thomas Sawyer. Ich … hm … habe einmal für Präsident Lincoln gearbeitet.«
Becky, die hinter Tom stand, seufzte fast unhörbar bei dieser Eröffnung. Falls Mr Chisholm beeindruckt war, so zeigte er es jedenfalls nicht. Er nickte Becky zu, die das Nicken lächelnd erwiderte, dann schwieg der Mann.
Tom wollte gerade neu ansetzen, als der Fischer mit unverhohlenem Misstrauen sagte: »Ich darf hier wohnen. Meine Eltern haben das Grundstück gekauft. 1836 . Kann Ihnen die Urkunde zeigen, wenn Sie wollen.«
Tom warf einen kurzen Seitenblick zu Becky und zog eine Augenbraue hoch, dann wandte er sich wieder an den Fischer. »Darum geht es nicht, Mr Chisholm. Wie Sie vielleicht wissen, hat der Chronicle vor nicht ganz zwei Jahren vom Verschwinden Ihrer Frau Debbie berichtet.«
Chisolm wischte sich die blutigen Hände an seinem Schurz ab. »Und? Hab keine Zeitung. Weiß nich’, was die schreiben.«
Tom nickte. »Der Chronicle hat zwei Monate später einen Artikel darüber veröffentlicht, dass Ihre Frau wiederaufgetaucht ist. Ist sie da? Können wir mit ihr sprechen?«
~~~
Sie saß an einer Glasfront, die aus vier verschiedenen Fenstern zusammengebaut war. Obwohl die Sonne durch die stumpfen Scheiben hereinflutete, war es im Haus selbst düster.
Es war ein einziger großer Raum, aufgeteilt in eine Ecke zum Schlafen, eine zum Kochen und eine, in der Debbie Chisholm auf einem Schaukelstuhl saß und vor und zurück wippte.
Die Dielen knarrten unter Toms Sohlen, und seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Zwielicht. Von der Decke des Raumes hingen seltsame Gebilde herab. Kleine Flaschen, Spiegelscherben und buntes Blech waren an Schnüren und Ästen aufgehängt wie Mobiles, und in Netzen, die durch den Raum gespannt waren, lagen Fundstücke, die der zurückweichende Fluss freigegeben hatte: Puppen, Strohhüte, Zigarrenkisten, Pferdegeschirre, eine Trompete. Auf mehr wasserfleckigen Kommoden, Tischchen und Vitrinen, als zwei Menschen je brauchen könnten, standen Geschirr und Karaffen, Standuhren und Etageren, Waagen, Tintenfässer und Schreibfedern.
Die Wände waren mit Ölbildern und Stichen bedeckt, gerahmte Familienfotografien hingen dicht an dicht und ließen kaum etwas von der Wand dahinter zum Vorschein kommen. Tom bemerkte, dass es nicht die Familienbilder der Chisholms sein konnten, die da hingen. Zu viele und zu unterschiedliche Gesichter.
Über allem lag stechend der modrige Gestank des Flusses und der Geruch der Fischsuppe, die auf einem Topf in der Küche vor sich hin kochte. Die Frau im weißen Spitzenkleid am Fenster sah nicht auf, auch nicht, als Tom und Becky neben sie traten. Ihre Hautfarbe schien eine Mischung aus Grau und Weiß zu sein, ihre Züge, einstmals bestimmt weich und schön, waren ausgezehrt und fahl.
Debbie Chisholm hatte ein längliches, ebenmäßiges Gesicht, mit einer spitzen Nase über einem kleinen Mund. In dem offenen grauen Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, waren noch einzelne blonde Strähnen zu erkennen. Die grünen Augen blickten stumpf. Ihre Hände waren dünn, und die Gelenke traten knochig hervor. Ohne hinzusehen, wickelte sie aus Bast eine kleine Figur, ein Püppchen mit Armen, Beinen und mit langen Haaren, so groß wie ein junges Kätzchen. Vor ihr auf einem Tisch stand bereits etwa ein halbes Dutzend dieser Strohpuppen, als würden sie auf das neue Geschwisterchen warten.
Der Fischer, der eben noch grob und abweisend gewirkt hatte, legte seiner Frau sanft eine Hand auf die knochige Schulter. Seine Stimme war leise und zärtlich. »Debbie, Liebes? Du hast Besuch.«
Debbie blickte auf, und ihre ausdruckslose Miene wich einem kleinen Lächeln des Erkennens, so als hätte sie ihren Mann lange nicht gesehen. »Carl.«
Sie sah nicht zu Tom und Becky, die neben dem
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