Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
wahr?«
Becky klang aufmunternd, doch Debbie wandte sich von ihr ab und drehte den Kopf stattdessen zu Tom. »Ein schöner Mann.«
Tom spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Die Frau des Fischers griff nach einer Tasse, die neben ihr auf einem Beistelltischchen bei einer Kanne stand. Sie trank in großen Schlucken, leerte die Tasse auf ein Mal. Sie blickte in die leere Tasse. »Trinken. Ich muss viel trinken. Das hat er gesagt. Trink viel.«
Tom legte die Stirn in Falten und sah zu Becky. Die beugte sich vor und nahm Debbies Hand. »Wer hat das gesagt? Ihr Mann? Hat Carl das gesagt?«
Debbie sah Becky erstaunt an. »Nicht Carl. Er hat das gesagt. Der Mann!« Sie hob das Püppchen und hielt es Becky vor das Gesicht.
Becky blinzelte. » Er? Das ist er?« Sie griff nach dem Püppchen. »Das ist der Mann, der Sie entführt hat?«
Debbie wandte sich ab, blickte auf ihren Schoß und zog dann neue Bastfäden aus dem Büschel zu ihren Füßen. Flink wickelte sie sie auf und formte eine neue Kugel.
Beckys Finger glitten durch das Haar der Bastpuppe. »Er hat Sie mitgenommen und gesagt, Sie sollen viel trinken? Und er sieht so aus?« Sie hob das Püppchen hoch.
Debbie sah nicht hin und schwieg.
Tom blickte auf die Hände der Frau, die mechanisch den Bast durch die sehnigen Finger gleiten ließ. Er bemerkte die vernarbte Haut, die sich um ihr Handgelenk zog wie ein zerfurchtes rötliches Armband. Wieder hielt er ihre Hände fest. »Hat er das gemacht? Der Mann? Hat er Sie festgebunden?«
Sie sah ihn nicht an, schob seine Hand weg, zurrte das Band um das obere Drittel ihres Knäuels und formte so den Kopf der Puppe.
»Ma’am?«
Sie reagierte nicht. Tom seufzte und blickte zu Becky. Er raunte ihr leise zu: »Ich weiß nicht, ob das noch was bringt. Vielleicht sollten wir lieber gehen«, und Becky nickte.
Tom wollte sich gerade aufrichten, da schoss Debbies rechte Hand vor und griff nach Toms Kragen. Er zuckte zurück, doch Debbie hielt ihn mit eisernem Griff am Kragen umklammert und zog sein Gesicht zu ihrem. Die Augen der Frau waren weit aufgerissen, ihr Mund verzerrt, sie schob ihr Kinn unnatürlich weit vor und zischte Tom an. »Er ist der Hüter des Lichts! Vergiss das nicht! Er kann es dir geben, und er kann es dir nehmen, ganz wie es ihm gefällt! Sie legen mir Stricke auf den Weg! Ich kann nicht fliehen! Ich schreie zum HERRN ! Führe meine Seele aus dem Kerker, hörst du! Hörst du?«
Sie schüttelte Tom, sah ihn flehentlich an, als erwarte sie endlich eine Antwort. Dann stieß sie ihn von sich, und Tom fiel hin und starrte die Frau erschrocken an. Auch Becky war vollkommen erstarrt.
Debbie blinzelte, dann ließ sie die Hand sinken und lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück. Als hätte sie etwas Wichtiges vergessen, sammelte sie sich kurz, dann griffen ihre Hände in den Schoß. Sie nahm die Puppe wieder hoch und wickelte weiter den Bast darum. Als ein dumpfes Grollen von draußen zu hören war, blickte sie aus dem Fenster in die dunklen Wolkenberge über dem Fluss. »Carl sagt, es gibt Regen. Das ist schön. Regen ist schön.«
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»Es war hier«, sagte Chisholm, »Muldrow Square 12 . Das da war die Elf, und hier, wo die Archer Street einmündet, sollte mal ein Friseurgeschäft entstehen.«
Sie standen im Matsch, und die Pferde wieherten unruhig.
Chisholm deutete auf halb vom Schlamm bedeckte Fundamente und Holzbohlen, zwischen denen zersplitterte Dachziegel und vermoderte Latten lagen.
»Muldrow Square 12 «, murmelte Tom. Er stand auf einem Sandsteinsockel, der wohl einmal die Schwelle des Hauses gebildet hatte. Becky berührte ihn mitfühlend am Arm, sagte aber nichts.
Der Fischer spuckte einen Kautabakpfriem auf den Boden. »Ja, Sir, der Fluss nimmt, und der Fluss gibt. Jedes Mal, wenn Flut ist, nimmt er etwas mit und gibt dafür etwas Neues frei. Tut mir leid zu hören, dass er Ihnen alles genommen hat.«
Dann blickte er zu den dunklen Wolken hinauf, die inzwischen über ihnen standen. »Es geht bald los. Ich muss die Netze reinholen. Wenn Sie was über den Kerl erfahren, der Debbie entführt hat, dann geben Sie mir Bescheid. Ich würde mich gern mit ihm unterhalten.«
Unterhalten? Vermutlich lieber ausnehmen, wie einen seiner Welse, mutmaßte Tom und nickte dem Mann freundlich zu. Nach ihrem plötzlichen Ausbruch hatte Debbie ihnen nichts mehr gesagt, und Tom und Becky waren nach unten gegangen und hatten gehofft, von Chisholm noch etwas mehr zu erfahren.
Doch auch Carl wusste kaum
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