Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Das Schweigen wurde nur vom raschelnden Umblättern der Seiten und von Hollis’ gleichmäßigem Schnarchen unterbrochen. Da offensichtlich niemand vorhatte, ihm etwas zu fressen zu geben, hatte sich der Mischling schmollend unter der Druckerpresse niedergelassen und die Augen geschlossen.
Tom pflügte durch unzählige Artikel über den Krieg, über das Gefecht mit den Shoshonen am Bear River, über den Sieg der Union bei Chattanooga und dessen lokalen Auswirkungen in St. Petersburg und im County. Zahllose Scharmützel wurden da beschrieben, die Anschläge auf die Eisenbahn von St. Petersburg und St. Joseph, Frontverläufe wurden ebenso mitgeteilt wie seitenlange Listen über die Verluste.
Er las sich durch Senatsbeschlüsse, Taufanzeigen, amtliche Bekanntmachungen, Berichte über Indianeraufstände, über Mississippi-Hochwasser, Brände und Diebstähle. Er überflog Wahlergebnisse und langatmige Nachlesen von Gemeindefesten, er streifte Todesanzeigen und kurze Notizen über Neueröffnungen oder Pleiten im Geschäftsleben der kleinen Stadt und staunte über den bis nach St. Petersburg zu vernehmenden Lockruf des Goldes in Colorado am Platte River.
Tom hatte das Gefühl, als holte er in wenigen Stunden ein verlorenes Leben in St. Petersburg nach. Irgendwann stand Becky auf, machte Kaffee, bediente Mr Crawford, den Inhaber des Eisenwarenladens, der eine Anzeige aufgab, und kehrte mit zwei dampfenden Tassen in die Druckerei zurück.
Sie ließ sich auf dem papierübersäten Boden nieder, und Tom musste lächeln, als er sah, wie hingebungsvoll sie den Kopf wieder zwischen die Blätter steckte.
»Musst du nicht arbeiten? Ich mein … deine Zeitung? Musst du nicht was schreiben?«, fragte er.
Ihr Kopf tauchte hinter der Zeitung auf, ihre Augen blitzten verärgert.
»Willst du mich loswerden?«
Tom hob abwehrend die Hände. »Keine Spur, ich –« Doch da war ihr Kopf schon wieder hinter der Zeitung verschwunden. Tom schob einen Stapel Zeitungen beiseite und zog einen neuen zu sich heran. Januar 1864 .
Er war nie ein großer Leser gewesen. Ganz anders als Becky. Vielleicht war diese ganze Leserei auch für die Katz? Vielleicht gab es in den Zeitungen nichts zu finden, was ihnen weiterhalf? Vielleicht war es reine Zeitverschwendung? Er musste dringend nach Huck sehen.
Erschöpft griff er nach einer Ausgabe des Chronicle . Bevor er die Titelseite überflog, fiel sein Blick auf die Pflanzenstängel, und ihm fiel auf, dass Becky noch nichts dazu gesagt hatte. »Du weißt auch nicht, was das ist?«
Becky ließ ihre Zeitung sinken, betrachtete das dünne Stöckchen, das Tom hochhielt, und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht fragst du Mr Dobbins, der kennt sich aus mit Pflanzen.« Sie verschwand wieder hinter der Zeitung.
Tom nahm den Bindfaden, der an dem Stöckchen hing, und schwang es daran herum. »Dobbins. Ja, ich muss sowieso zu ihm und über Hattie sprechen. Ich brauche einen genauen Zeitplan vom Tag ihres Verschwindens. Außerdem muss er nach Huck sehen und –«
»Halt die Klappe!«
»Was ist? Ich meine, warum –«
»Du sollst die Klappe halten!«
Tom blickte verdutzt auf. Becky war in ihre Zeitung vertieft, ihre Augen wanderten über die Zeilen. Dann drehte sie die Zeitung zu ihm herum und tippte mit dem Finger auf einen Artikel. Ihre Augen blitzten aufgeregt.
»Es gibt einen Zeugen. Jemand hat den Mann gesehen, den du suchst.«
~~~
Die Pferde preschten über den alten Hohlweg, der von der Straße von Palmyra zur Fähre nach Quincy abzweigte. Der Hohlweg war an manchen Stellen zugewachsen, Haselnusssträucher ließen ihre Äste weit hineinhängen. Über die einst so breite Straße, die nach Marion City führte, war im Laufe der Jahre dichtes Gestrüpp gewuchert.
Bis sie in den Hohlweg einbogen, war Becky vorausgeritten; sie kannte sich gut aus in der Gegend, da Recherchen und die Besorgungen für den Chronicle sie oft nach Palmyra führten.
Toms Rotschimmel und Beckys schwarzer Hengst schwitzten an den Flanken; sie hatten die Tiere so angetrieben, dass sie für den Ritt von St. Petersburg bis in die Nähe der untergegangenen Stadt kaum eine halbe Stunde gebraucht hatten.
Und auch Tom lief der Schweiß den Nacken hinunter.
Die milde Morgenluft war sengender Mittagshitze gewichen, Stechmücken schwirrten in Wolken über austrocknenden Pfützen und Altarmen des Mississippi, die ihren Weg säumten. Zudem war er das Reiten nicht mehr gewöhnt. In Washington, mit Lincoln, hatte
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