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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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mehr zu berichten, als dass es wohl zwei indianische Fährtenleser im Dienste der Unionstruppen gewesen waren, die Debbie auf der Straße zwischen St. Petersburg und Palmyra aufgefunden und anschließend zur Methodisten-Kirche in Palmyra gebracht hatten, wo jemand sie als die Frau des Fischers erkannte.
    Ihr Kleid war zerfetzt, ihre Gelenke an Händen und Füßen waren wundgescheuert gewesen, sie reagierte empfindlich auf Sonnenlicht. Sie sprach nicht, starrte wochenlang nur teilnahmslos auf ihre Hände, bis sie irgendwann anfing, die Püppchen zu wickeln. Als Tom den Fischer fragte, ob er wisse, wo in der sie umgebenden Schlammfläche einst das Haus am Muldrow Square 12 gestanden hatte, hatte Chisholm sie hingeführt. Nun ging er zurück zu seinem Haus. Eine gebeugte dunkle Gestalt, die vor dem Grau des Himmels verschwand.
    Tom spürte einen ersten Tropfen auf der Wange. Es kam ihm vor, als würde der Himmel mit dem einsetzenden Regen zu weinen anfangen, weil er selbst es nicht konnte, obwohl er in den Ruinen seiner Kindheit stand. Er empfand ein tiefes Bedauern und eine Traurigkeit, die auf seinen Schultern lagen wie ein schwerer, nasser Mantel. Ob auch Sid dieses Gefühl des Verlassenseins empfand? Er stellte sich vor, wie sie am Boden dieses Hauses gemeinsam gespielt haben mussten, und spürte plötzlich eine Welle von Wärme und Zuneigung für seinen Halbbruder.
    »Du hast mir nie gesagt, wie es passiert ist«, sagte Becky sanft. »Willst du es mir erzählen?«
    Tom trat einen Schritt in das Haus hinein und schob mit dem Stiefel eine grüne Scherbe über den Schlamm. Er schwieg, und Becky nickte, als hätte sie es nicht anders erwartet. Sie wandte sich ab und ging zu den Pferden, als Tom anfing zu sprechen.
    »Ich erinnere mich nicht. Oder nur noch ganz schemenhaft. Sid und ich … wir waren so klein damals. Ich weiß nur noch, wie Daddy mich von einem großen Karren mit unseren Möbeln hinuntergehoben und auf den Schultern in das Haus getragen hat. Das Fundament war aus Stein, aber darauf stand eine Holzhütte. Wenn die Reihe an uns war, sollte die Baufirma ein solides Steinhaus darauf errichten. Den Rest hat Polly uns erzählt. Daddy war bei der Armee gewesen. In Marion City wollte er einen Eisenwarenladen eröffnen, weil alle dachten, die Stadt würde das neue Tor zum Westen werden und alle Glücksucher und Goldschürfer würden hier vorbeikommen, um ihre Vorräte aufzufrischen und Hacken und Schaufeln zu kaufen und dann mit den Ochsentrecks losziehen.«
    Im Frühjahr ’ 36 , so erzählte Tom weiter, bekam sein Vater das Angebot, eine Einheit zu leiten, die die Choctaw-Indianer von Mississippi nach Little Rock in Arkansas umsiedeln sollte. Für seinen Vater sollte es eine einmalige Rückkehr zur Armee sein, fürstlich bezahlt, und er konnte das Geld gut gebrauchen für den Laden und das Haus. Er wollte drei Monate weg sein und dann mit den Taschen voller Geld zurückkommen. Als er losgeritten war, wurde Toms Mutter krank. Sie bekam Fieber. Erst regnete es wochenlang. Dann kam die Flut und kroch ganz langsam in die Stadt hinein. In aller Eile wurden Entwässerungsgräben ausgehoben und Dämme errichtet. Aber es half nichts. Der Fluss war zu stark. Toms Mutter brachte Sid und Tom nach St. Petersburg zu ihrer Schwester Polly, weigerte sich aber, den Laden alleinzulassen. Er war alles, was sie hatten, und sie wollte ihn nicht im Stich lassen, ob sie nun krank war oder nicht. Damals kannten Sid und Tom Polly kaum und hatten Angst vor ihr. Sid weinte die ganze Zeit. Nur Polly hatte Toms Mutter dann noch einmal besucht.
    Das Wasser kam durch alle Ritzen ins Haus, und Toms Mutter hatte alles an Schnüren an der Decke aufgehängt oder auf den Tisch und auf die Stühle gestellt. Jeden Tag schöpfte sie schlammiges Wasser aus ihrem Haus, aber es kam immer nach. Polly versuchte, sie zum Aufgeben zu überreden, sagte ihr, sie brauche einen Arzt und solle mit nach St. Petersburg kommen. Aber Toms Mutter weigerte sich, und Polly fuhr zurück. Sie war nicht bei sich, sagte Polly später und machte sich Vorwürfe, dass sie ihre Schwester nicht mitgenommen hatte.
    Die Fluten stiegen weiter. Kaum jemand war noch in Marion City, fast alle waren geflüchtet. Plünderer kamen in die untergehende Stadt, und niemand hielt sie auf. Eine Woche später fand man Toms Mutter ertrunken in ihrem Haus. Man vermutete, sie sei im Fieber gestürzt bei dem Versuch, über den Tisch ins Bett zu klettern. Sie hatte sich vermutlich den Kopf

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